Die Jungfrau Im Eis
daß sie die düsteren Umrisse des Clee, auf den dieser alte Pfad genau zuhielt, direkt vor sich sehen konnten. Abweisend, wild und einsam ragte er auf - ein ideales Versteck für Räuber.
»Mein Freund«, sagte Cadfael, ohne seine Augen von dem finster drohenden Berg abzuwenden, »ich halte es für das Beste, daß wir uns hier trennen. Soweit ich erkennen kann, stammen diese Spuren aus der letzten Nacht. Einige Pferde und viele Männer sind hier gegangen, und Blut ist in den Schnee getropft. Es könnte von geschlachteten Schafen stammen oder von verwundeten Männern. Die Bande, die wir ausräuchern müssen, versteckt sich irgendwo dort oben, und wenn sie gestern Nacht nicht einen ihrer mörderischen Raubzüge unternommen hat, lese ich diese Spuren falsch.
Irgendwo in dieser Gegend muß es einen Hof geben, wo man Tote aufbahrt und Verwundete verbindet oder zumindest den Verlust von Vorräten und Gerätschaften beklagt. Du kehrst um, Reyner, folgst den Spuren dorthin, wo diese Männer gestern geplündert und geraubt haben und benachrichtigst Hugh Beringar, damit er rettet, was noch zu retten ist. Falls er noch nicht zurück sein sollte, gehst du nach Ludlow und berichtest Josce de Dinan - er hat ebenso viel zu verlieren wie jeder andere.«
»Und was werdet Ihr tun, Bruder?« fragte Reyner zögernd.
»Ich werde vorausgehen und die Spuren weiterverfolgen. Ob sie nun die beiden, die wir suchen, mitgeschleppt haben oder nicht - dies ist die beste Gelegenheit herauszufinden, wo sie ihr Versteck haben. Mach dir keine Sorgen!« sagte er als er sah, daß sein Begleiter die Stirn runzelte und unschlüssig dastand.
»Ich werde schon auf mich aufpassen, schließlich bin ich kein unerfahrener Jüngling. Aber hier, nimm dies mit und übergib es Prior Leonard zur Aufbewahrung bis ich zurück bin.« Er zog die Strähne des fahlen Pferdehaars hervor, die, wie er wußte, ein sehr wichtiger Hinweis war und steckte sie in die Mitte des Kleiderbündels. »Sag ihm, daß ich heute abend zurück sein werde.«
Schon nach einer Viertelmeile kreuzte er die Spuren, die Reyner und sein eigener Maulesel auf dem Weg zum Bach hinterlassen hatten. Der Wind hatte hier feinen Schnee über den Pfad geweht. Hätte er jedoch darauf geachtet, dann hätte er bemerken müssen, daß hier Männer und Pferde gegangen waren, obwohl er sich sicher nichts Böses dabei gedacht hätte, denn der Schnee hatte auch die Kette der roten Punkte überdeckt.
Ab hier ging es jetzt leicht bergab, über den Ledwyche-Bach und seinen nordöstlichen Zufluß, den Dogditch-Bach. Der Weg schlängelte sich zwischen Anwesen hindurch, ohne ihnen jedoch zu nahe zu kommen und begann wieder anzusteigen.
Dies mußte eine uralte Straße sein. Immer bemüht um eine möglichst geringe Steigung zog sie sich durch das hügelige Gelände, bis sie schließlich steiler werden mußte, um den drohenden Gipfel zu erklimmen, jenen kahlen, zerklüfteten Berg, auf dem, zwischen jäh aufragenden Steilwänden, nur kümmerliches Gras und trügerisches Moos wuchs.
Der Clee bestand auf dieser Seite nur aus Steilwänden, auf die für kurze Momente streifiges Sonnenlicht fiel. Dort konnte der Weg gewiß nicht hinaufführen, und doch hielt er immer noch gerade auf die Felswand zu. Bald mußte er entweder nach rechts oder nach links abbiegen und immer weiter zusteigend den Berg umrunden. Cadfael dachte an den Überfall auf John Druels Hof. Wahrscheinlich würde der Weg also rechts um den Berg herumführen, denn so waren sie mit Sicherheit in jener Nacht zurückgekehrt. Cleeton hatten sie unterhalb liegenlassen - es war zu groß und zu gut bewacht, um so kurz vor Tagesanbruch eine leichte, schnelle Beute sein zu können.
Einige Minuten später bestätigte sich seine Vermutung, denn der Pfad bog nach rechts ab und folgte dem Verlauf eines kleinen, jetzt zugefrorenen Baches, der sich weiter oben am Berg in eine mit vereistem Moos bewachsene Höhlung ergoß, um die der Pfad einen Bogen schlug. Die zerklüftete Masse des Berges lag jetzt zu seiner Linken, wurde seinen Blicken jedoch oft durch die Felsformationen entzogen, seltener auch durch kleine Gruppen verkrüppelter Bäume, zwischen denen hindurch der Weg führte. In einer weiten Kurve stieg er immer weiter auf, bis er unter sich in einer Mulde die traurigen Überreste von Druels Hof sah. Wenig später war er noch höher und konnte die Ruinen nicht mehr sehen.
In der felsigen Bergflanke zu seiner Linken erschien unerwartet ein Spalt, so schmal, daß
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