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Die Jungfrau Im Eis

Die Jungfrau Im Eis

Titel: Die Jungfrau Im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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kommen, mußte man einen breiten Streifen offenen Geländes überqueren und das bedeutete eine Gefahr für Yves und den sicheren Tod für denjenigen, der dieses Unternehmen wagte.
    Im Schutz der Dunkelheit mochte es vielleicht glücken. Wenn die Schneedecke das Vorgehen auch erschwerte, so durchbrachen doch hier und da blanke Felsen die weiße Fläche. Aber als die Nacht hereinbrach, war der Himmel wolkenlos und in der klaren Frostluft leuchtete das Licht der Sterne hell auf dem Schnee. In der einzigen Nacht, in der sie sich Schneegestöber mit Sturm gewünscht hätten, durch das die Sicht beeinträchtigt und dunkle Kleidung unter einem schützenden Schleier verborgen worden wäre, regte sich kein Lüftchen, und keine einzige Schneeflocke fiel vom Himmel. Und die Stille war so groß, daß sogar das Knacken eines trockenen Zweiges, auf den man trat, wahrscheinlich bis zur Palisade zu hören war.
    Cadfael lauschte gerade mißmutig in diese Stille hinein, als sie plötzlich mit einer solchen Gewalt zerrissen wurde, daß er erschreckt zusammenfuhr. Ein lautes, metallisches Scheppern, wie das einer großen, schlecht gemachten Glocke, erklang auf dem Plateau, Schlag um Schlag ein gnadenloses Getöse, das nicht aufhörte - durchdringend, fordernd, kaum zu ertragen.
    Unter den Bäumen sprangen Männer auf und gingen so nah wie möglich an den Waldrand, um zu sehen, was sich in der Festung tat. Und ebenso erhob sich innerhalb der Palisaden ein Lärm und ein Geschrei, aus dem Cadfael schloß, daß diese Musik nicht von den Belagerten stammte, daß dies kein geplantes Manöver war und daß man es dort weder begrüßte noch verstand. Wenn dort drinnen etwas schiefgegangen war, dann konnten sie hier draußen vielleicht einen Gewinn daraus ziehen.
    Das Scheppern kam von der Spitze des Turms. Jemand dort oben hieb auf einen Schild oder irgendwie improvisierten Gong.
    Aber warum sollte jemand im Lager so durchdringenden Alarm geben, wenn doch gar kein Angriff drohte? Und das Geschrei, das dieser Lärm im Lager hervorrief, war, wenn auch durch die Entfernung gedämpft und in einzelnen Worten nicht verständlich, unverkennbar aufgebracht und wütend. Eine laute Stimme, die nur le Gaucher gehören konnte, brüllte Befehle.
    Gewiß hatte sich angesichts dieser unerwarteten Entwicklung alle Aufmerksamkeit von den Feinden draußen abgewandt.
    Cadfael handelte ohne lange zu überlegen. In der Mitte zwischen dem Wald und der Palisade befand sich ein Felshöcker, ein kleiner schwarzer Punkt in der eintönig weißen Fläche. Auf diesen Felsen rannte er aus der Deckung der Bäume zu und warf sich hinter ihn der Länge nach hin, sodaß er in seiner schwarzen Kutte, wenn er bewegungslos verharrte, mit dem Stein verschmolz und nicht auszumachen war. Er bezweifelte ohnehin, daß noch jemand dem Gelände vor der Palisade große Aufmerksamkeit schenkte. Das unablässige Scheppern dauerte weiter an, obwohl die Hand, die sich da rührte, langsam ermüden mußte. Vorsichtig hob Cadfael den Kopf und beobachtete die gezackte Krone des Turms, die sich deutlich vom Nachthimmel abhob. Der Rhythmus des mißtönenden Klapperns kam ins Stolpern und wurde langsamer, und als es für einen Augenblick aufhörte, sah Cadfael einen Kopf, der vorsichtig durch eine Schießscharte Ausschau hielt. Er hörte jetzt, gedämpft durch die dicken Stämme, aus denen der Turm bestand, ein dumpfes Krachen und Splittern von Holz, so als gehe jemand mit einer Axt zu Werk. Ein zweites Mal erschien der Kopf. »Yves!« rief Cadfael und winkte. Vor dem Schnee war sein schwarzer Ärmel gut zu sehen.
    Er bezweifelte, daß man ihn dort oben hören konnte, obwohl die klare Luft alle Geräusche unverzerrt weitertrug. Bestimmt aber konnte man ihn sehen. Die kleine Gestalt auf dem Turm - sie überragte kaum die Brustwehr - reckte sich einen Augenblick lang vor und schrie mit vor Erregung schriller Stimme: »Kommt! Greift an! Wir haben den Turm! Wir sind zu zweit und bewaffnet!« Dann verschwand sie wieder hinter einer Zinne und keinen Augenblick zu früh, denn mindestens ein Bogenschütze hatte die gezackte Turmkrone beobachtet und sein Pfeil traf den Rand der Brustwehr und blieb zitternd dort stecken.
    Trotzig wurde das scheppernde Trommeln auf dem Turm wieder aufgenommen.
    Ohne an die Gefahr zu denken, sprang Bruder Cadfael von seinem Platz hinter dem Felsen auf und rannte auf die Bäume zu. Mindestens ein Pfeil wurde ihm hinterhergeschickt, erreichte ihn jedoch nicht mehr. Bruder Cadfael

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