Die Jungfrau Im Eis
man, er suche uns - meine Schwester und mich.« Der Gedanke an Ermina machte ihn zittern. Was half es schon, daß er gefunden war, wenn sie immer noch vermißt wurde? »Sie - meine Schwester... sie hat uns verlassen! Ich weiß nicht, wo sie ist!« Er ließ seinen Worten einen verzweifelten Seufzer folgen.
»Ah, da habe ich dir also etwas voraus, denn ich weiß, wo sie ist! Mach dir keine Sorgen um Ermina. Sie ist wohlbehalten und sicher in Bromfield. Es ist wahr, glaub mir! Würde ich dich anlügen? Ich habe sie selbst dorthin gebracht, um euch zusammenzubringen, aber noch bevor wir am Tor ankamen erfuhr ich, daß du schon wieder davon warst.« »Ich konnte nichts dafür, ich mußte...« Es war fast zuviel auf einmal. Yves schluckte seine Verwunderung hinunter und riß sich zusammen. Jetzt, da er sich keine Sorgen mehr um Ermina machen mußte, nahm er in der Gefahr, in der er sich befand, Zuflucht zu bitteren Anklagen gegen sie, dafür daß sie ihn und so viele andere in diese Situation gebracht hatte. »Ihr kennt sie nicht! Sie will auf niemanden hören«, sagte er empört. »Wenn sie erfährt, daß ich verschwunden bin, ist sie zu allem fähig! An all dem ist nur sie allein schuld und wenn sie es sich in den Kopf setzt, wird sie wieder irgendeine Dummheit begehen. Ich kenne sie besser als Ihr!«
Er führte Oliviers leises, freundliches Lachen auf das allzu große Vertrauen des jungen Mannes zu Ermina zurück. »Sie wird gehorchen! Keine Sorge, sie wird in Bromfield warten.
Aber bevor ich dir meine Geschichte erzähle, solltest du mir, glaube ich, deine erzählen. Schütte nur dein Herz aus! Das ist jetzt die beste Gelegenheit, wir dürfen uns ohnehin noch nicht von hier wegrühren. Da unten ist jemand.« Yves hatte nichts gehört.
»Ihr seid aus Worcester geflohen, das weiß ich, und ich weiß auch, wie deine Schwester euch verlassen hat, und warum. Sie hat es mir frei und offen erzählt. Und wenn es dich beruhigt: nein, sie hat nicht geheiratet und hat es auch nicht vor, sondern ist froh, aus einem dummen Fehler mit heiler Haut herausgekommen zu sein. Aber was war mit dir, nachdem sie verschwunden war?«
Yves lehnte sich an den groben Stoff über Oliviers Schulter und erzählte die ganze Geschichte: wie er erst im Wald umhergeirrt war, wie Prior Leonard und Bruder Cadfael sich in Bromfield um ihn gekümmert hatten, von Schwester Hilarias tragischem Tod und wie er sich mit dem armen, umnachteten Bruder Elyas durch den Schneesturm gekämpft hatte.
»Und dort habe ich ihn zurückgelassen, ohne daran zu denken...«
Yves verstummte. Ihm fielen die Worte ein, die Bruder Elyas gesprochen hatte, als sie nebeneinander in der Hütte gelegen hatten. Das war etwas, das er niemandem, nicht einmal diesem strahlenden Helden sagen durfte. »Ich habe Angst um ihn. Aber ich habe die Tür nicht verriegelt. Glaubt Ihr, sie werden ihn rechtzeitig finden?«
»Da bin ich ganz sicher«, sagte Olivier beruhigend. »Euer Gott kümmert sich um die geistig Verwirrten und sorgt dafür, daß die Verlorenen gefunden werden.«
Yves fiel sofort auf, wie seltsam Olivier sich ausgedrückt hatte. »Unser Gott?« sagte er und sah fragend auf, zu dem dunklen Gesicht dicht über ihm.
»Oh, es ist auch meiner. Allerdings bin ich erst auf gewissen Umwegen zum Christentum gekommen. Meine Mutter war eine Muselmanin aus Syrien, mein Vater ein Kreuzritter aus dem Gefolge von Robert von Normandie. Er kam aus England und kehrte wieder hierhin zurück, noch bevor ich geboren wurde.
Als ich aus dem Knabenalter heraus war, nahm ich seinen Glauben an und ging nach Jerusalem zu den Kreuzrittern. Dort trat ich in den Dienst deines Onkels und als er nach England zurückkehrte, ging ich mit ihm. Ich bin ein Christ wie du, aber während du in diesen Glauben hineingeboren wurdest, habe ich ihn aus freien Stücken gewählt. Ich habe das Gefühl, Yves, daß du deinen Bruder Elyas wohlbehalten wiedersehen wirst, trotz der kalten Nacht, die ihr verbracht habt. Wir sollten unsere Köpfe lieber anstrengen, um einen Weg zu finden, wie wir von hier entkommen können.«
»Wie seid Ihr hier hereingekommen?« wunderte sich Yves.
»Wie konntet Ihr überhaupt wissen, daß ich hier bin?«
»Ich wußte es nicht, bis dieser Räuberhauptmann dich auf die Zinnen stellte und dir ein Messer an die Kehle hielt. Aber ich sah sie aus einiger Entfernung mit ihrer Beute vorbeimarschieren und dachte, es könne sich lohnen, eine solche Gesellschaft von Räubern zu ihrem Versteck zu
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