Die Jungfrau im Lavendel
geringsten.
Chariot aber ging unverdrossen seine stillen Lieblingswege, er wußte, wo der Thymian wuchs und wo der wilde Lavendel leuchtend zwischen den Büschen und Felsen blühte. Er nahm die Blüten mit in sein kleines Haus und hängte sie neben der Tür auf; ließ sie trocknen, wenn ihr strahlendes Blau verblichen war. Keiner kümmerte sich mehr um den Lavendel in den Bergen, der wurde mittlerweile drunten auf Feldern angebaut und mit Maschinen geerntet, wie eine gewöhnliche Nutzpflanze.
»Dabei ist der Lavendel eine von Gott geschaffene Blume«, wußte Chariot.
»Alle Pflanzen sind von Gott geschaffen«, belehrte ihn Mère Crouchon.
»Gewiß. Doch der Lavendel hat seine besondere Geschichte. Wie er entstanden ist, meine ich. Da gab es einmal eine schöne Jungfrau, die wurde von zwei Räubern verfolgt, die sie vergewaltigen wollten, sie floh in die Berge hinauf, und die beiden hasteten hinter ihr her, und sie ergriffen sie und zwangen sie zu Boden, rissen ihr die Kleider vom Leib …«
»Fi donc!« empörte sich Madame Bertin. »Was erzählen Sie für schreckliche Geschichten, Monsieur Chariot.«
Doch der ließ sich nicht beirren. »Hatten ihr also die Kleider vom Leib gerissen, und sie kniete im Gras, sie weinte bitterlich und flehte zu Gott, ihr zu helfen, und auf einmal sprossen überall, wo ihre Tränen hingefallen waren, blaue Blumen aus dem Boden, wuchsen mit Windeseile, bogen sich zu Ranken und legten sich schützend um sie. Die Räuber erschraken, ließen ab von dem Mädchen und flohen. Seitdem, so heißt es, kann keiner Jungfrau Unrechtes geschehen, wo der Lavendel blüht. Und wie ihr wißt, haben Frauen immer gern getrockneten Lavendel zwischen ihre Kleider und ihre Wäsche gelegt. Sie wissen schon, warum.«
»Es ist doch eine sehr hübsche Geschichte«, befand Madame Bertin.
»Eines Tages«, vermutete Monsieur Bertin, »wird man Parfüm und Seife sowieso nur noch mit Chemie herstellen. So wie alles heute. Da brauchen sie gar keine Pflanzen mehr dazu.«
»Das mag schon sein«, gab Chariot zu. »Dann werden die großen blauen Felder drunten verschwinden. Aber hier oben wird der Lavendel immer blühen. Solange es Gott gefällt, auf dieser Erde etwas blühen zu lassen.«
Chariot war der einzige von den Dorfbewohnern, der gelegentlich mit Dido sprach. Er kam auf seinen Spaziergängen oft genug an der Ferme vorbei. Die Bertins und die alte Crouchon fürchteten die schöne fremdartige Person mit den funkelnden Augen eher, und sie wußten schließlich auch, was früher auf der Ferme passiert war. Sicher war sie schon dabei gewesen, diese fremde Hexe, als dort noch Bomben gebastelt wurden, diese fremde Hexe, die man fortjagen sollte.
»Als Christenmenschen dürftet ihr so etwas nicht sagen«, meinte Chariot. Er sah das anders. Erstens war er ja durch seinen früheren Beruf zu Güte und Verständnis verpflichtet, auch wenn er kein Priester gewesen war, so kam er doch gleich nach diesem. Und zweitens war dieses dunkelhaarige Mädchen eine Kämpferin gewesen, genau wie er auf seine Art ja auch ein Kämpfer gewesen war. Jeder auf seine Weise, und jeder für das, was ihm des Kampfes wert erschien. Er für die Freiheit Frankreichs, das sein Vaterland war. Sie für den Bestand Algeriens, das ihre Heimat war.
»Das ist eben der Unterschied«, belehrte ihn Bertin. »Bei dir sagst du Vaterland, und bei ihr sagst du Heimat.«
»Ihr Vaterland ist Frankreich, genauso wie es meines ist. Aber meine Heimat ist die Provence, und ihre Heimat ist Algerien, und beides gehört zu Frankreich. Du möchtest auch nicht von hier vertrieben werden.«
»Wer sollte mich denn von hier vertreiben? Das ist Frankreich, wo ich lebe, Algerien war eine Kolonie.«
»Algerien war keine Kolonie, sondern ein Teil Frankreichs. Sie kannte es nicht anders, seit sie auf der Welt ist. Und wo wir hier leben, das war nicht immer Frankreich. Es gab früher einmal ein eigenes Königreich Provence. Hast du nie von dem guten König René gehört? Er vererbte die Provence, die sein Reich war, an den französischen König Ludwig.«
Davon hatte Bertin nie gehört, und er schüttelte mißtrauisch den grauen Kopf.
»Was für ein Ludwig?« wollte er wissen. »Der Vierzehnte? Der Fünfzehnte?«
»Nein, nein, es war früher. Kann sein, es war der Elfte.« Genau wußte Chariot es auch nicht, und er beschloß, wenn er das nächstemal nach Lassange ging, den jungen Pfarrer, obwohl er ihn nicht besonders mochte, nach einem Buch zu fragen, in dem so
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