Die Jungfrau von Zesh
schädlich wie der der Terraner. Und aufgrund dieser ›Erkenntnis‹ versucht er natürlich, jeglichen Kontakt mit ihnen zu unterbinden.«
»Nun, zumindest Gottfried und mich kann er nicht daran hindern, zu ihnen zu gehen«, sagte Althea. »Wir gehören schließlich nicht zu seinem Verein.«
»Er selbst kann es vielleicht nicht, aber ein paar seiner Muskelknaben hätten bestimmt ihren Spaß daran, es zu versuchen.«
»Oh.« Erst jetzt wurde Althea die volle Tragweite der Tatsache bewusst, dass sie sich an einem Ort befand, an dem das einzige Gesetz das Wort eines verschrobenen Sektenführers war. Aber sie fragte Kirwan fast trotzig: »Haben Sie etwa Angst?«
»Ich und Angst? Dass ich nicht lache! Wenn ihr beiden geht, gehe ich auch. Aber wenn ich euch einen guten Rat geben darf: geht nachts, wenn die Naturapostel alle schlafen.«
Nach dem Mittagessen gingen Althea und Bahr den offiziellen Oberhäuptern der Kolonie bewusst aus dem Weg. Den Nachmittag verbrachten sie mit dem Studium psychologischer Grundbegriffe. Bahr erklärte Althea einiges über Psychologie im allgemeinen und Psychometrie im besonderen. Althea hatte zwar eine recht gute Schulbildung genossen, aber diese hatte sich fast ausschließlich auf die schönen Künste beschränkt und die Naturwissenschaften nur ansatzweise gestreift. Jetzt eröffneten sich ihr vollkommen neue Perspektiven.
So begann sie plötzlich, ihre eigenen verdrängten Triebregungen zu verstehen. Ja, ihr wurde sogar bewusst, dass sie, wenn sie diesen verdrängten Triebregungen gestattet hätte, an die Oberfläche zu kommen, einen Mann wie Gorchakow gar nicht einmal so ungern geheiratet hätte.
Als sie Bahrs schmalen dunklen Kopf betrachtete, fragte sie sich plötzlich sogar, ob sie richtig daran getan hatte, ihm einen Korb zu geben. Aber nein, er mochte zwar ein fähiger Lehrer und gewissenhafter Wissenschaftler sein, aber er besaß nicht mehr emotionale Ausstrahlung als jede andere blitzende, gut funktionierende Maschine. Ohne Zweifel rang hinter der kühlen, nüchternen Fassade ein menschlicher Geist darum, sich irgendwie zum Ausdruck zu bringen, aber das nützte ihr auch nichts. Außerdem konnte sie nicht vergessen, wie beharrlich er sich gesträubt hatte, sie nach Zesh mitzunehmen. Wenn Kirwan ihn nicht so hartnäckig bedrängt hätte, säße sie wahrscheinlich noch immer in Novorecife und müsste Gorchakows Brutalitäten über sich ergehen lassen.
Kurz vor dem Abendessen kam Kirwan mit geballten Fäusten und zähneknirschend in die Hütte zurück, um sich die Hände zu waschen. »Diese Teufel!« stieß er hervor. »Diese elenden Mistkerle! Ich reiße sie in Stücke und tanze auf ihren Eingeweiden herum!«
»Was ist denn nun schon wieder passiert?« fragte Bahr.
»Sie wollen eine Theateraufführung machen, so eine Art Volksdrama, anlässlich eines Sonnenwendfestes oder irgend so eines Quatsches, und da haben sie mich gefragt, ob ich Lust hätte mitzumachen. Klar, sag ich, der große Brian Kirwan legt euch einen Text hin, so was habt ihr noch nicht gesehen – aber Pustekuchen! Ein Bursche, den sie Euripides nennen, hat das Stück schon fix und fertig geschrieben! Na schön, denk ich, vielleicht wollen sie mich dann als Schauspieler gewinnen. Irrtum! Was glaubt ihr, wozu sie mich haben wollten?«
»Als was?« fragten Althea und Bahr im Chor.
»Als Kulissenschieber! Mich, den großen Brian Kirwan! Ich sollte auf der Bühne herumkriechen und irgendwelches Zeugs an die Bühnenwand hängen, das den Verfall des terranischen Kapitalismus symbolisiert! Eine unglaubliche Unverfrorenheit! Und wenn ich meine Sache gut mache, dann dürfte ich vielleicht in der letzten Szene eine Fackel über die Bühne tragen, die den Triumph des natürlich lebenden Rousselianers über die dekadente irdische Zivilisation symbolisiert! Stellt euch das vor.«
Der Tempel von Zesh befand sich in einer felsigen Region der Insel, ungefähr zwei oder drei Hoda vom Elysium entfernt. Althea Merrick, Gottfried Bahr und Brian Kirwan tasteten sich durch die Dunkelheit den Pfad entlang, der zu dem Gebäude führte. Gelegentlich half ihnen dabei das Licht eines der drei Monde, das hier und da durch die Baumwipfel fiel.
Plötzlich standen sie vor dem Tempel. Er kam Althea wie ein überdimensionaler Salzstreuer vor, mit einem Licht obendrauf. Vorsichtig gingen sie näher heran. »Seht ihr vielleicht so etwas wie eine Türklingel?« fragte Kirwan im Flüsterton.
Sie suchten die Tür ab, fanden aber weder
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