Die Jungfrau von Zesh
eine Stelle im Dickicht, raffte Zweige und Moos zusammen und legte sich schlafen.
8
A ls es hell wurde, stand Althea auf und kletterte auf einen Baum. Von ihrem Ast aus konnte sie im Norden die Spitze des Tempels von Zesh erkennen und in der entgegengesetzten Richtung die Lichtung und die Hüttendächer der Siedlung. Sie wusste, dass der Pfad, der zwischen dem Tempel und der Siedlung verlief, an den Klippen auf der Ostseite der Insel entlangführte, manchmal so dicht, dass er fast das Meer berührte. Wenn sie sich ganz einfach in Richtung Osten hielt, würde sie zwangsläufig irgendwann auf diesen Pfad stoßen und brauchte ihm dann bloß noch nach Süden zu folgen, um wieder ins Dorf zu gelangen.
Als sie in ihre Hütte kam, wurde sie von Bahr freudig begrüßt und umarmt. Sie ließ es zu, dass er sie drückte und ihren Kopf an seine Brust legte, entwand sich ihm jedoch resolut, als er zu intimeren Begrüßungsformen schreiten wollte.
»Althea, erzählen Sie mir, was passiert ist! Brian kam vor knapp zwei Stunden hier angehumpelt und erzählte eine wilde Geschichte von einem Überfall, bei dem ihr beide um Haaresbreite dem Tode entronnen wärt. Ein geschwänzter Krishnaner wäre plötzlich aus dem Unterholz gebrochen und hätte sich auf Sie gestürzt. Während er, Kirwan, mit Todesmut gegen den Unhold gekämpft hätte, wären Sie schreiend davongerannt und hätten sich im Dunkeln verlaufen. Natürlich habe ich ihm die Geschichte nicht abgenommen, dazu kenne ich seine psychische Struktur inzwischen zu gut. Ich nahm daher an, dass es sich bei der Geschichte wahrscheinlich um ein reines Phantasieprodukt handelte, das er sich ausgedacht hatte, um eine plausible Erklärung für die Kratzer auf. seinem Gesicht zu haben, die, wie ich stark annehme, von Ihren Händen stammen.«
Althea erzählte Bahr, was passiert war. Der Psychologe kommentierte: »Das ist typisch für diese emotional infantilen Typen. Sie lügen, um kurzfristig eine unangenehme Situation zu vermeiden, obwohl sie genau wissen, dass die Wahrheit früher oder später ans Licht kommen wird.«
»Und was gedenken Sie nun zu unternehmen?« fragte Althea.
»Was könnte ich groß unternehmen? Ich bezweifle, dass Brian gewillt ist, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, selbst wenn ich die Zeit dazu hätte.«
»Das habe ich auch nicht gemeint!« stieß Althea wütend hervor.
»Was haben Sie dann gemeint, mein Liebes?«
»Dass Sie ihm vielleicht mal kräftig eins auf die Nase geben, das habe ich gemeint!«
»Wirklich? Aber meine liebe Althea, das ist ein höchst unpraktikabler Vorschlag. Erstens ist er stärker als ich und ohne Zweifel viel geübter im Umgang mit seinen Fäusten. Daher ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich derjenige wäre, der eins auf die Nase bekäme, um bei Ihrer bildhaften Ausdrucksweise zu bleiben.«
»Sie haben doch Halevi neulich auf dem Sportplatz auch die Stirn geboten«, sagte sie in einem letzten verzweifelten Versuch, Bahr bei seinem Mannesstolz zu packen.
»Das war ein ganz anderer Fall. Meine Analyse aller psychologisch relevanten Faktoren ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Halevi die Sache auf die Spitze treiben würde, sehr gering war. Hingegen besteht kein Zweifel, dass Kirwan, wenn er angegriffen werden sollte, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln kämpfen würde. Zweitens: Selbst wenn ich obsiegen sollte, würde das nichts an den Zwängen und Neurosen ändern, die Brian dazu bringen, sich derart irrational zu verhalten. Ich glaube fast, Sie sind selbst in ihren emotionalen Reaktionen ein bisschen infantil.«
Althea seufzte resigniert. Sie wusste ja selbst, dass der Wunsch, Bahr die zerschmetterten Überreste Kirwans über den Hauptplatz von Elysium schleifen zu sehen, nicht gerade von emotionaler Reife und Abgeklärtheit zeugte; aber wenn Bahr es getan hätte, dann hätte sie es vielleicht sogar geschafft, sich in ihn zu verlieben. Aber wie die Dinge lagen, war kaum damit zu rechnen, dass es ihr je gelingen würde, ihn hinter seinem pädagogischen Schutzwall hervorzulocken.
Der Klang von erregten Stimmen ließ sie nach draußen schauen. Ausnahmsweise schien es sich jedoch diesmal nicht um eine Reiberei mit Kirwan zu handeln. Diogo Kuroki stand auf dem Platz und debattierte mit dem Wachtposten vom Felsen unten am Strand. Althea hörte, wie der letztere sagte: »… bloß eine Galeere, aber es ist ihre größte. Wenn ich mich nicht irre, habe ich Yuruzh persönlich im Bug stehen
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