Die Jungfrau von Zesh
gerade ein paar Schritte in Richtung Strand gegangen, als sie hinter sich Stimmen hörten. Verdutzt drehten sie sich um. Hinter ihnen standen etwa zwanzig Rousseau-Adepten, Männer und Frauen gemischt. Ihre Gebärden und ihr Gesichtsausdruck verhießen nichts Gutes. Ein paar trugen Keulen; andere hielten Steine in der Hand. Diogo Kuroki redete mit suggestiven Gesten auf sie ein.
»Da sind sie! Die dekadenten Produkte einer verfaulten Zivilisation, die versucht haben, unser edles Experiment zu vernichten! Ich hatte sie eindringlich gewarnt, sich aus dieser Streiterei unter den Eingeborenen herauszuhalten! Aber sie mussten sich ja unbedingt einmischen! Und warum? Aus purem Neid auf das kleine Glück unserer utopischen Insel und aus ihrem unversöhnlichen Hass auf alles, was natürlich und schön ist! Und jetzt werden wir wegen ihnen in diesen Konflikt hereingezogen und vielleicht vernichtet! Wäre es recht und billig, wenn wir diese Halunken ungeschoren davonkommen ließen?«
»Nao!« brüllten die Rousselianer im Chor, und zwanzig Arme mit Steinen flogen gleichzeitig hoch, ihre Last auf die beiden zu schleudern.
»Weg hier!« schrie Althea und rannte los.
Bahr hetzte hinter ihr her. Steine pfiffen an ihnen vorbei. Gerade als Bahr mit Althea gleichgezogen hatte, schlug ihm einer mit dumpfem Prall gegen den Rücken. Ein zweiter streifte Altheas linke Seite, richtete jedoch mangels Wucht keinen ernsteren Schaden an. Hinter sich hörte sie das Trampeln und Geifern und Hecheln der Meute.
»Zum Strandpfad!« stieß Bahr zwischen zwei keuchenden Atemzügen hervor.
Althea fand den Pfad und hetzte in großen Sätzen hinunter, den Blick auf den Boden vor ihr geheftet. Sie hatte fürchterliche Angst, mit dem Fuß umzuknicken, der Länge nach hinzufallen und von der wütenden Rousselianer-Meute zu Mus geschlagen zu werden.
Der Strand schien ihr plötzlich viel ferner, als sie gedacht hatte, und sie befürchtete, sich verlaufen zu haben. Die Meute kam immer näher. Angesichts ihrer Geschwindigkeit hatte sie fast schon geglaubt, sie abgehängt zu haben, aber die Kinder der Natur waren fähige, durchtrainierte Läufer.
Dicht hinter sich hörte sie Bahrs keuchende Atemzüge. Wenn sie schon nicht auf solche sportlichen Übungen trainiert war, dann war der klapprige Psychologe es noch weniger. Althea vermutete, dass er seit Jahrzehnten keine anstrengendere Übung mehr absolviert hatte, als Bleistifte zu spitzen oder sich die Schuhe zuzubinden.
Von hinten kam Kurokis wütender Anfeuerungsruf: »Schneller! Wir müssen sie erwischen, bevor sie den Strand erreichen!«
Mit einem letzten verzweifelten Spurt rettete sich Althea aus dem Wald und auf den Strand. Yuruzhs Galeere lag noch immer mit dem Bug auf dem Sand. Eine zweite Galeere war längsseits von ihr gelandet. Der Strand wimmelte von geschwänzten Záva. Althea blieb erschöpft stehen und hielt verzweifelt nach Yuruzh Ausschau. Sie entdeckte ihn sofort; sein schwarzer Umhang war nicht zu übersehen. Er stand neben dem Bug des ersten Schiffes und sprach gerade mit ein paar seiner Leute.
»Yuruzh!« schrie sie aus Leibeskräften. »Hilfe!«
Der Häuptling wirbelte herum. Im nächsten Moment hatte er schon einem seiner Männer den Bogen aus der Hand gerissen. Anlegen, zielen und loslassen war eins. Der Pfeil zischte an Althea vorbei und traf auf etwas hinter ihr. Sie hörte, wie ein Körper mit dumpfem Schlag in den Sand fiel. Sie drehte sich um.
Ein großgewachsener Rousselianer, dessen Gestalt ihr vage bekannt vorkam, lag nur wenige Fuß hinter ihr auf dem Sand. Aus seinem Rücken ragte eine Pfeilspitze. Der Pfeil war ihm in die Brust gedrungen, er war vornübergefallen, und beim Aufprallen hatte er sich den Pfeil vollends in die Brust getrieben. Neben ihm lag seine Keule.
Die anderen Rousselianer hielten jäh im Laufen inne, machten erschrocken kehrt und waren eine Sekunde später im Schutz der Bäume untergetaucht. Gottfried Bahr brach erschöpft zusammen und blieb japsend am Boden liegen. Yuruzh, der bereits einen zweiten Pfeil aufgelegt hatte, kam zu Althea und sagte: »Meiner Treu, junge Dame, Sie scheinen ja in der Tat ein äußerst bewegtes Leben zu führen! Was war es denn diesmal?«
Als sie einigermaßen wieder zu Atem gekommen war, erzählte sie Yuruzh, was geschehen war. Er dachte einen Moment nach und sagte dann: »Ich fürchte, wir werden diesem arkadischen Traum ein Ende setzen müssen. Mit Ihren Artgenossen klarzukommen ist wirklich nicht leicht. Aber
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