Die Jury
zielstrebig zu den ihnen zugewiesenen Plätzen und schlugen dort ihr Lager auf. Sie stellten Klappstühle unter große Eichen und holten Thermoskannen mit kaltem Wasser hervor. Die Haltestangen der blauen und weißen FREIHEIT FÜR CARL LEE-Schilder wurden in den Boden gerammt und formten eine Art Zaun. Agee hatte einige neue Poster anfertigen lassen. In der Mitte zeigten sie ein vergrößertes Schwarzweiß-Foto Carl Lees, umgeben von einem roten, weißen und blauen Rand. Sie wirkten eindrucksvoll und professionell.
Die Klanmitglieder ließen sich gehorsam auf ihrem Bereich des Rasens nieder. Auch sie brachten eigene Plakate mit: Auf weißem Grund forderten kühne rote Lettern TOD FÜR CARL LEE, TOD FÜR CARL LEE. Als sie herausfordernd damit winkten, stimmten die Schwarzen einen Sprechchor an, und beide Gruppen begannen wieder sich anzuschreien. Die Gardisten bildeten Trennreihen am Weg und hielten lässig ihre Waffen bereit, als sich Schwarze und Kluxer gegenseitig beschimpften. Es war acht Uhr am zweiten Tag des Prozesses.
Bei den Reportern brach ein regelrechter Freudentaumel über soviel Berichtenswertes aus. Sie eilten zum Platz, als das Geschrei begann, während Ozzie und der Colonel ums Gerichtsgebäude wanderten und immer wieder ihre Funkgeräte an die Lippen hoben.
Um neun begrüßte Ichabod die Anwesenden im Gerichtssaal. Wie gestern war auf den Sitzbänken kein Platz mehr frei, und diesmal herrschte selbst hinten, vor dem Ausgang, dichtes Gedränge. Buckley stand langsam auf, gestikulierte ausladend und teilte dem Richter mit, daß er den Vorgeladenen keine weiteren Fragen stellen wolle.
Der Verteidiger Brigance erhob sich mit weichen Knien und neuerlichen Magenkrämpfen. Er ging zum Geländer und sah in die unsicher blickenden Augen von vierundneunzig potentiellen Geschworenen. Aufmerksam hörten sie diesem jungen, kecken Mann zu, der sich damit gerühmt hatte, noch keinen Mordprozeß verloren zu haben. Er erweckte einen entspannten und zuversichtlichen Eindruck. Seine Stimme war laut, aber es fehlte ihr nicht an einer gewissen Wärme. Die von ihm gewählten Worte klangen gebildet, und gleichzeitig haftete ihnen etwas ganz Normales an. Er stellte sich noch einmal vor, auch seinen Klienten und die Familie Hailey, zuletzt die Tochter, Tonya. Den Bezirksstaatsanwalt lobte er für die gründliche Vernehmung am Montagnachmittag und gestand ein, daß seine meisten Fragen schon beantwortet seien. Anschließend sah er auf seinen Block und ließ eine verbale Bombe platzen: »Meine Damen und Herren, glaubt jemand von Ihnen, daß eine auf Unzurechnungsfähigkeit basierende Verteidigung nicht in jedem Fall angemessen ist?«
Einige der Geschworenen rutschten unruhig hin und her, doch niemand hob die Hand. Unzurechnungsfähigkeit! Unzurechnungsfähigkeit! Damit legte Jake den Keim des Zweifels an der Schuld seines Mandanten.
»Wenn wir beweisen, daß Carl Lee Hailey unzurechnungsfähig war, als er Billy Ray Cobb und Pete Willard erschoß, gibt es unter ihnen eine Person, die ihn dann nicht für unschuldig befinden würde?«
Eine schwer zu verstehende Frage – und dahinter steckte Absicht. Wieder zeigten keine Hände nach oben. Einige Männer und Frauen holten Luft, schwiegen jedoch, weil sie nicht sicher waren, wie die richtige Antwort lautete.
Jake musterte sie und bemerkte überall Anzeichen von Verwirrung. Er wußte, daß die Geschworenen nun über eine mögliche Unzurechnungsfähigkeit seines Klienten nachdachten, und genau darauf kam es ihm an.
»Ich danke Ihnen«, sagte er betont freundlich. »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
Buckley runzelte die Stirn und blickte zum Richter, der überrascht blinzelte.
»Das ist alles?« vergewisserte sich Noose ungläubig. »Das ist wirklich alles, Mr. Brigance?«
»Ja, Euer Ehren. Meiner Ansicht nach gibt es an dieser Geschworenenauswahl nichts auszusetzen.« Damit demonstrierte Jake Vertrauen, im Gegensatz zu Buckley, der die Vorgeladenen drei Stunden lang verhört hatte. Natürlich war er mit den Leuten ganz und gar nicht zufrieden, aber er hielt es für sinnlos, die gleichen Fragen zu stellen wie der Bezirksstaatsanwalt.
»Na schön. Die Anwälte begleiten mich bitte in mein Büro.«
Buckley, Musgrove, Jake, Ellen und Mr. Pate folgten Ichabod durch die Tür hinter dem Richterstuhl und nahmen am Tisch Platz. »Nun«, begann Noose, »ich vermute, Sie möchten von jedem Geschworenen hören, was er oder sie von der Todesstrafe hält.«
»Ja, Sir«,
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