Die Jury
des Staates, mit dem Volk vereint in seinem Bemühen, für Gerechtigkeit zu sorgen. An den rhetorischen Fähigkeiten des Bezirksstaatsanwalts bestand kein Zweifel: Einmal sprach er ruhig zu den Geschworenen, wie ein Großvater, der seinen Enkeln Rat anbot. Eine Sekunde später setzte er zu einer Tirade an oder legte mit einer Predigt los, die der eines schwarzen Priesters in nichts nachstand. Unmittelbar darauf überzeugte er die Jury mit geschickter Eloquenz davon, daß die Stabilität unserer Gesellschaft, sogar die Zukunft der Menschheit, von einer Verurteilung abhinge. Bei wichtigen Prozessen griff er tief in die verbale Trickkiste, und dies war der wichtigste seiner bisherigen beruflichen Laufbahn.
Er sprach frei, ohne eine schriftliche Vorlage, und er fesselte die Anwesenden, als er sich als Freund und Partner der Geschworenen darstellte. Mit ihnen zusammen würde es ihm gelingen, die Wahrheit herauszufinden, auf daß der Angeklagte für sein schreckliches Verbrechen die gerechte Strafe bekäme.
Nach zehn Minuten hatte Jake genug. Er schnitt eine Grimasse und stand auf. »Ich erhebe Einspruch, Euer Ehren. Mr. Buckley wählt keine Geschworenen für die Jury aus. Ich weiß nicht, was sein Gerede bedeutet, aber eins steht fest: Es handelt sich wohl kaum um eine Vernehmung der Vorgeladenen.«
»Stattgegeben!« rief Noose ins Mikrofon. »Mr. Buckley, wenn Sie keine Fragen haben, dann nehmen Sie Platz.«
»Bitte entschuldigen Sie, Euer Ehren«, erwiderte der Bezirksstaatsanwalt und gab sich verletzt. Jake hatte gerade zum ersten Schlag ausgeholt.
Buckley griff nach einem Block und stellte tausend Fragen. Er erkundigte sich, ob jemand der Aspiranten schon einmal die Pflichten eines Geschworenen wahrgenommen hätte. Mehrere Hände reckten sich nach oben. Zivil- oder strafrechtliche Prozesse? Haben Sie den Angeklagten für schuldig oder unschuldig befunden? Wann fanden die Verhandlungen statt? Und die Hautfarbe der Angeklagten? Schwarz oder weiß? Und das Opfer? Schwarz oder weiß? Ist jemand von Ihnen in ein Gewaltverbrechen verwickelt worden? Zwei Hände. Wann? Wo? Hat man den Täter gefaßt? Wurde er verurteilt? Schwarz oder weiß? Jake, Harry Rex und Ellen schrieben seitenweise Notizen. Sind Verwandte von Ihnen Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen? Einige weitere Hände kamen nach oben. Wann? Wo? Was geschah mit dem Täter? Fand ein Prozeß gegen ihn statt? Endete er mit einer Verurteilung? Haben Sie Freunde oder Verwandte, die bei der Polizei tätig sind? Wer? Wo?
Drei Stunden lang untersuchte Buckley die Vorgeladenen mit der Sorgfalt eines Chirurgen, der eine komplizierte Operation plant. Er bewies Kompetenz, hatte sich gut vorbereitet und stellte einige Fragen, die Jake überhaupt nicht eingefallen wären. Darüber hinaus berücksichtigte er praktisch alle Punkte, die der Verteidiger zur Sprache bringen konnte. Behutsam entlockte er den Geschworenen Einzelheiten über ihre persönlichen Empfindungen und Meinungen. Und zum richtigen Zeitpunkt ließ er eine komische Bemerkung fallen, um seine Zuhörer zum Lachen zu bringen, damit sie sich entspannten. Er hatte den Gerichtssaal fest in der Hand und war voll in Fahrt, als ihn Noose um fünf unterbrach. Buckley würde die Befragung am nächsten Morgen fortsetzen.
Der Richter vertagte die Verhandlung auf neun Uhr am Dienstag. Jake unterhielt sich eine Zeitlang mit seinem Klienten, während das Publikum dem Ausgang entgegenstrebte. Ozzie stand in der Nähe und hielt die Handschellen bereit. Nach dem kurzen Gespräch mit Jake kniete Carl Lee vor seiner Familie nieder und umarmte sie alle. »Wir sehen uns morgen wieder«, sagte er. Der Sheriff führte ihn durchs Nebenzimmer und die Treppe hinunter. Am Hinterausgang warteten mehrere Deputys, um ihn zum Gefängnis zu fahren.
34
A m zweiten Prozeßtag schien die Sonne schneller als sonst im Osten aufzugehen, und innerhalb weniger Sekunden trocknete sie den Tau auf dem Gras vorm Gerichtsgebäude. Ein schwüler, fast unsichtbarer Nebel stieg auf und klebte an den Stiefeln und Uniformhosen der Soldaten. Heißer Sonnenschein brannte bereits auf sie herab, während sie im Zentrum von Clanton über die Bürgersteige schlenderten oder im Schatten der Bä ume und unter den Markisen der Geschäfte herumstanden. Als in den Zelten das Frühstück serviert wurde, hatten die Gardisten ihre Jacken abgestreift und trugen nur noch hellgrüne, schweißfeuchte Unterhemden.
Die schwarzen Prediger und ihre Gemeindemitglieder schritten
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