Die Kälte in dir (German Edition)
Flucht schlug. Doch war das allein die Ursache für sein körperliches Dahinschwinden?
Kristina erinnerte sich daran, was Dr. Wuppermann und auch Arthur Lorenz über die Stoffwechselerkrankung und deren Auswirkungen zu berichten wussten. Eine Krankheit, die sich auch durch kalorienreiche Ernährung nicht mehr kompensieren ließ. Die wegen des Versorgungsdefizits das Gehirn angriff und schädigte. War das der Beginn eines Leidenswegs, der in den Wahnsinn geführt hatte?
Sollte Louise Osswald sich von Schwarz getrennt haben, um den Zwist zwischen ihm und ihrem Vater zu beenden, hätte der Architekt durchaus ein Motiv für den Mord an Egon Osswald gehabt. Doch warum wartete er zwanzig Jahre damit? Schwer vorstellbar, dass dieser Hass so lange gären konnte. Und wenn dem doch so war, wie waren die anderen Toten zu erklären? Carola Walz, Jakub Piecek. Ganz zu schweigen von Werner Finckh. Ging es dabei nur um das Fett, das ihnen aus dem Leib geschnitten worden war?
Diese Überlegung endete wie bislang auch in einer Sackgasse, an deren Ende ein Wort stand:
Wozu?
Aus blankem Neid, weil diese Menschen an Übergewicht litten und damit das im Überfluss hatten, was Schwarz fehlte?
Kristina machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Keine SMS von Daniel. Bevor sie seine Nummer wählen konnte, drängte sich ein eingehender Anruf vor.
»Hier ist Sonja! Louise Osswald ist definitiv in Frankfurt gelandet. Ob sie den Zug nach Stuttgart genommen hat, kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Wenn sie die Fahrkarte direkt beim Schaffner gekauft hat, könnten wir das nur über ihre Kreditkarten herausfinden. Doch für so eine Anfrage besteht wohl aktuell keine Handhabe, oder?«
Kristina musste ihr recht geben, bat sie aber trotzdem darum, Decher davon zu berichten. Hatte sie Glück, schätzte er die Sache ähnlich relevant ein.
»Versuch es auf jeden Fall bei der Taxizentrale. Womöglich kann sich einer der Taxifahrer erinnern, die Dame gefahren zu haben. Und frag bei den Mietwagenfirmen am Bahnhof nach.«
Was, wenn Schwarz sie vor ihnen erwischt hatte? Wenn der Architekt doch wusste, dass Louise in Stuttgart erwartet wurde? Er musste ohnehin damit rechnen, nachdem er ihren Vater getötet hatte.
Es geisterte immer noch der Verdacht durch Kristinas Kopf, dass Schwarz einen Zugang zu ihren Büros hatte. Aber wie hätte er an die Passwörter der Rechner kommen sollen?
»Verbinde mich mit Decher«, verlangte sie von Sonja.
Kristina berichtete dem Hauptkommissar, was sie von Gentner erfahren hatte. Er konnte umgehend die nötigen Schritte einleiten, um die Vermutung zu entkräften. Oder, im schlimmsten Fall: zu erhärten.
Sie kündigte an, dass sie in einer guten halben Stunde im Präsidium sein würde, und machte sich daran, den nächsten Zug zu erwischen.
Beim Gehen fühlte es sich an, als wäre der Beton in seine Muskeln gesickert und ausgehärtet. Das hielt Daniel jedoch nicht davon ab, das Krankenhaus zu verlassen. Der behandelnde Arzt hatte ihm abgeraten, aber Daniel war nicht umzustimmen. Entlassung auf eigene Verantwortung.
Bis auf die Schmerzen in den Waden kam er ganz gut zurecht. Womöglich trug er einen psychischen Schaden in sich, dessen Auswirkungen er noch nicht spürte. Ein Trauma, das unerwartet und hinterrücks kam, dann, wenn er nicht damit rechnete. Hervorgerufen durch eine Stresssituation oder die Konfrontation mit einer Zementmischmaschine. Doch dagegen konnten sie ihm auf der Unfallstation ohnehin nicht helfen.
Er empfand keine Angst, nicht einmal, wenn er an den Spatz dachte. Als hätte er die Furcht vor dem Tod ausgeschwitzt, während er im Betonfundament gefangen gewesen war.
Darja war seine Versicherung. Sein Schutzengel.
Er hatte sich ein Taxi genommen, denn er wollte nicht mit den verdreckten Sachen durch die Stadt laufen. Seine Hose hatte der Notarzt ohnehin über den Knien abgeschnitten, als sie ihn aus dem Beton geholt hatten. Daraus schauten nun die frisch bandagierten Unterschenkel hervor, als würde er unter der Jeans ein Mumienkostüm tragen. Das T-Shirt war nicht weniger verschlissen.
Zu Hause angekommen, fiel er erschöpft aufs Sofa, nachdem er die Treppe in den vierten Stock bewältigt hatte.
Als er erwachte, war er desorientiert und ohne jegliches Zeitgefühl. Der Gang ins Bad war peinigend, da die Muskulatur wieder kalt war. Er pinkelte im Sitzen, um die Beine zu entlasten, und in der Hoffnung, dass er wieder hochkam. Nach einem ersten Versuch entschied er, noch sitzen zu bleiben, und
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