Die Kälte in dir (German Edition)
er ihr zu verstehen. »Sag mir einfach, wo der Aufenthaltsraum für die Bereitschaft ist. Da gibt’s sicherlich eine Pritsche für mich.«
»Du kannst mit zu mir kommen«, schlug sie vor und hätte ihr Angebot in derselben Sekunde gerne wieder zurückgenommen. »Falls du mit den verletzten Beinen überhaupt fahren kannst?«, fügte sie schnell hinzu, in der vagen Hoffnung, dem leichtfertigen Anfall von schlechtem Gewissen und Nächstenliebe wieder entgegenwirken zu können.
Gas, Bremse und Kupplung zu bedienen fiel Daniel leichter, als zu Fuß zu gehen. Außerdem war es nur ein kurzes Stück durch die Stadt, über die sich die Dämmerung legte.
Kristina half Daniel die Treppe hoch, indem sie ihren Arm unter seine Achsel schob, und legte ihn schließlich auf ihrer Designercouch ab. Nachdem sie ihm ein Glas Wasser gebracht hatte, öffnete sie die Balkontür. Augenblicklich strömte kühle, wohltuende Luft herein. Schlug das Wetter endlich um? Bedeutete dies das Ende der tropischen Nächte?
»Ich setze mich raus, kommst du klar?«, fragte sie, bekam aber keine Antwort mehr.
Daniel war eingenickt. Sie lächelte und ging hinaus in die Nacht.
Leider war es nicht Sampo, der Kristinas Telefon eine knappe Stunde später vibrieren ließ. Stattdessen zeigte das Display die Nummer ihrer Eltern an. Es war halb zehn durch.
»Du rufst gar nicht mehr an«, kam der Vorwurf ihrer Mutter noch vor der Begrüßung.
»Danke, Mama, mir geht es gut«, antwortete sie, obwohl das eine Lüge war. Es ging ihr alles andere als gut. Außerdem glaubte sie ohnehin nicht, dass ihre Mutter die Anspielung verstand. »Im Moment ist viel los«, erklärte sie deshalb, nachdem sie einen Schluck Wein getrunken hatte.
»Es kommt laufend im Fernsehen«, sagte ihre Mutter. »Wir machen uns Sorgen.« Sie vermied es, wie immer auszusprechen, worin diese Sorgen begründet waren.
Dass Kristina zur Polizei gegangen war, machte ihre Eltern einerseits stolz, andererseits hatte ihre Berufswahl eine ständig wachsende Angst in ihnen geschürt. Deshalb verwandte ihre Mutter niemals Wörter wie
Verbrechen
oder gar
Mörder
. Sie wollte auch nie wissen, inwieweit Kristina in die Aufklärung solcher Abscheulichkeiten verwickelt war.
»Braucht ihr nicht«, verkündete Kristina und bemühte sich um eine beruhigende Tonlage. Sie hätte leugnen können, im Fall des Remstalschlächters zu ermitteln. Stattdessen beließ sie es bei dieser Aussage. »Es ist schön, dass du anrufst«, lobte sie ihre Mutter, obwohl sie wusste, dass der Griff zum Telefon schon als Kritik zu verstehen war, weil Kristina es versäumt hatte, sich zu melden.
Ihr fehlte jegliche Energie, sich jetzt gegen die Vorwürfe ihrer Mutter zu verteidigen. Vom Sofa aus hörte sie Daniels leises Schnarchen auf den Balkon dringen. Sampo tüftelte in seinem Labor an dem verschmorten Laptop herum. Draußen in der Dunkelheit lauerte der Mörder. Wenn sie daran dachte, sah sie die Silhouette eines dürren Mannes, der einen Mantel trug.
Der Mantel!
Wo hatte sie diesen Mann gesehen?
»Bist du noch da?«, fragte ihre Mutter, und ihre Stimme war so laut, als müsste sie die vierhundert Kilometer Luftlinie, die sie trennten, ohne technische Hilfsmittel überbrücken.
»Tut mir leid, ich war in Gedanken. Ich kann jetzt leider auch nicht weiter mit dir reden«, verkündete sie bedauernd, »ich habe Bereitschaft.«
Auch das stimmte so nicht, aber wie sollte sie es anders erklären, ohne erneut flunkern zu müssen? Solange der Killer nicht gefasst war, würde ihr das Gehirn keine Pause mehr gönnen, die sie mit banalem Smalltalk füllen konnte.
»Wir sind zu Hause«, ließ ihre Mutter sie verärgert wissen.
»Sag Papa einen Gruß!«, warf Kristina ein, bevor sie die Verbindung trennte.
Ihr Bewusstsein drängte widerwillig zurück an die Oberfläche und suchte das leise Rattern unterhalb ihrer Nachttischlampe.
»Ich hab’s«, raunte die Stimme in ihr Ohr, und sie hatte keine Ahnung, worum es ging.
»Kristina? Hast du schon geschlafen?«
Sampo.
Immer noch nicht fähig, eine Antwort zu geben, sah sie auf die Uhr. Halb eins. Sie hatte vor zwanzig Minuten die Augen geschlossen.
»Du kannst den Film auch morgen ansehen«, führte Sampo seinen Monolog fort. »Dann gehe ich jetzt auch ins Bett.«
Nein, sie wollte nicht warten! Das war viel zu entscheidend, geradezu lebenswichtig.
Dann besann sie sich ihres Gastes, der auf ihrer Wohnzimmercouch schlummerte. Wie lange sich alles hinziehen würde, wenn sie ihn
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