Die Kälte in dir (German Edition)
hier sichtbar. Nackte Glühbirnen hingen von der Decke. Irgendwo brummte ein Aggregat. Einer der Kriminaltechniker wartete an der letzten Tür am Ende des Ganges.
»Die einzige Tür, die verschlossen war. Darum hat es etwas gedauert«, erklärte er.
Kristina sah sich nach Hietaniemi um, der direkt hinter ihr stand.
»Keine Leiche«, raunte er. »Aber viele Tote.«
2
Polizeidirektor Kurt Retter war pragmatisch. Das konnte Kristina mit Bestimmtheit über ihn sagen, mehr aber auch nicht. Nach sieben Jahren unter seiner Führung wusste sie immer noch nicht, ob er sie mochte.
Oder eben nicht.
Der Blick seiner braunen Augen ruhte auf ihr, nachdem sie vor seinem abgenutzten Schreibtisch Platz genommen hatte, um über die anlaufende Ermittlung zu berichten.
Retter war zweiundsechzig Jahre alt, doch im Gegensatz zu Werner Finckh machte er nicht den Eindruck, seine Pensionierung herbeizusehnen. Kristina konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem sie einmal vor ihrem Chef im Büro gewesen wäre. Der schlanke, hoch aufgeschossene Beamte hatte weißes, kurz geschnittenes Haar und einen Walrossschnauzer unter der Hakennase. Früher war er Leistungssportler gewesen. Speerwerfer, wie zwei Schwarz-Weiß-Bilder hinter ihm an der Wand zeigten. Baden-württembergischer Meister – das hatte sie irgendwann aufgeschnappt. Das musste in den Sechzigern gewesen sein. Da er einen Ehering trug, nahm sie an, dass er verheiratet war. Private Worte, die über das obligatorische Erkunden nach dem Befinden hinausgingen, waren in all den Jahren nie gefallen. Gelegentlich hatte sie jedoch den Eindruck, er wisse mehr über sie, als ihr lieb war.
Knapp und präzise schilderte sie den Stand der Ermittlungen, ganz seiner Vorstellung entsprechend, denn was dieser Mann niemals hatte, war Zeit. Viel gab es ohnehin nicht zu berichten. Nur Spekulationen. Auch die Teambesprechung, die vor zwanzig Minuten zu Ende gegangen war, brachte kaum neue Erkenntnisse. Die bislang gesammelten Daten waren vernetzt, alle Beamten, die mit dem Fall betraut waren, konnten darauf zugreifen. Relevante Informationen schickte man umgehend an die Smartphones der Kollegen auf Streife. Die Polizeiarbeit war in den letzten Jahren sehr viel schneller geworden. Doch manchmal reichte das immer noch nicht.
Osswald war geschieden. Die Ex-Frau lebte in Südfrankreich. Finckh hatte sie unter der Telefonnummer, die ihnen vorlag, nicht erreichen können. Man hatte die Behörden vor Ort gebeten, die Frau zu verständigen. Die Scheidung lag nahezu drei Jahrzehnte zurück. Ob weiterhin Kontakt bestanden hatte, würde sich nach einem Gespräch mit der Dame herausstellen. Es gab ein Kind, Louise, die nach der Trennung in der Obhut des Vaters geblieben war. Aber auch die Tochter hatte den Vater verlassen. Vor zwanzig Jahren war sie in die USA ausgewandert. Dort verlor sich ihre Spur, so der aktuelle Ermittlungsstand.
Womöglich sah es am nächsten Tag besser aus, wenn der Autopsiebericht auf dem Tisch lag und die Kriminaltechniker erste Spuren ausgewertet hatten. Die Kollegen Lachenmeier und Winkler hatte bei ihrer Befragung der Bewohner der umliegenden Höfe und im Dorf nichts Entscheidendes in Erfahrung gebracht. Die Leute waren verschlossen und misstrauisch. Womöglich noch mehr, weil es um Osswald ging, den Zugezogenen, der nichts mit den Einheimischen zu tun haben wollte.
Der Briefkasten befand sich unten an der Zufahrt, eingelassen in eine der Säulen des Tors. Der Zusteller ging laut seinen Angaben nie hoch zum Haus. In den letzten drei Wochen war er selten dort gewesen und konnte keine Aussage treffen, ob das Tor die ganze Zeit über offen gestanden hatte.
Offenbar hatte Egon Osswald zu niemandem näheren Kontakt gehabt, und sein Tod schien die Nachbarn nicht sonderlich zu treffen. Seine Zugehfrau hatte wohl auch die Einkäufe erledigt und Paketzustellungen bei der Postfiliale im Dorf abgeholt.
Egon Osswald ging auch nicht in den Wald, der ihn umgab. Weder idyllische Wanderwege, mystische Schluchten, herrliche Aussichtspunkte noch andere Attribute des Schwäbischen Waldes konnten ihn von seinem Anwesen locken, schenkte man den Stimmen der Nachbarn Glauben.
Ihre heißeste Spur war das, was sie im Keller der Villa vorgefunden hatten, und das, was Werner Finckh über die Vergangenheit des mutmaßlichen Opfers ans Licht gebracht hatte.
Vor seinem Ruhestand war Osswald eine Heuschrecke gewesen.
Ein hochkarätiger Manager, der lange Jahre im Aufsichtsrat eines international
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