Die Kälte in dir (German Edition)
war. Ungestüm riss er den Wagen nach rechts auf die Abbiegerspur. Das Gefährt ächzte, schlingerte kurz. Hinter ihm hupte jemand. Nachdem er die Kontrolle über den Wagen zurückgewonnen hatte, hieb er mit der Faust aufs Lenkrad, um sich für die Unachtsamkeit zu bestrafen. Er brauchte etwas zu essen, um den Blutzuckerspiegel auf konzentrationsfähigem Niveau zu halten. Und um die Kälte in die Schranken zu weisen.
Er rollte in die Stadt hinein, suchte sich eine schmale Anwohnerstraße in der Wasserstubensiedlung, die in nordsüdlicher Richtung verlief, und fand einen passenden Parkplatz. Eine Weile blieb er noch sitzen, um die Wärme auszukosten, die sich im Innenraum angestaut hatte.
Er dachte wieder an die Frau, die gestern Vormittag lange unschlüssig vor dem Polizeipräsidium gestanden hatte. Es hatten sie nur zehn, zwölf Schritte von der Eingangstür getrennt, aber es schien ihr unmöglich gewesen zu sein, diese Distanz zu überwinden.
Anfangs hatte er sie aus einer Laune heraus beobachtet. Erst nach und nach war ihm bewusst geworden, wer sie war. Auf den Fotos von früher war sie wesentlich schlanker gewesen.
Er war zuvor der Rems gefolgt, durch die Talaue, hatte die schattige Unterführung durchquert, die ihn auf die Seite des Stadtparks brachte, wo das Bürgerzentrum die Sicht auf den weiteren Flussverlauf versperrte. Dort hatte er sich nach rechts orientiert, es vermieden, den großen Spielplatz zu passieren. Wie immer hatte er stattdessen auf die Treppe zugehalten, über die er hinauf zur Hauptstraße und somit an die Kreuzung gelangte. Dort, wo das Gebäude der Polizei in den Himmel ragte.
Das Bollwerk gegen das Böse.
Er hatte mit den Tagen Gefallen daran gefunden, den sich in der geschwungenen Glasfassade spiegelnden Himmel zu betrachten, während er darauf wartete, dass die Fußgängerampel auf Grün schaltete.
Dabei hatte er sie gestern entdeckt.
Wie sie sich aus dem Bus mühte und den für ihre dicken Beine langen Marsch zu der Stelle antrat, an der sie dann verharrte. Drei Ampelphasen lang beobachtete er sie, wie sie unschlüssig vor dem Eingang ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte.
Sie.
Seine Belohnung dafür, dass er diesen Weg auf sich nahm. Der Wink des Schicksals eben, der ihn hergeführt hatte. Ein weiteres Mal zur rechten Zeit am rechten Ort und so offensichtlich, sich ihrer annehmen zu müssen. Ein stärkeres Gefühl als bei dem Alten, der ihm, an derselben Stelle verharrend, ebenfalls ins Auge gefallen war.
Er lag neben ihr.
In Kristinas Rücken, auf der Seite der Matratze, auf der bis vor sechs Monaten noch Kai geschlafen hatte.
Seine Hand auf ihrem Rücken. Die Finger, die ihre Wirbelsäule nachzeichneten …
In diesem Bett, in dieser Wohnung, die teurer gewesen war, als es die Kalkulation vorgesehen hatte. Aber zwei Beamtengehälter hatten für die Kreditwürdigkeit gereicht, auch wenn der Blick auf die Schuldensumme schmerzte. Dafür hatte es diese Aussicht, die zentrale Lage, den Erstbezug und die Niedrigenergiebauweise gegeben.
Und seit einem halben Jahr die Einsamkeit.
Jetzt war auch noch der Führerschein weg … Diese elende Raserei.
Kristina war ja einsichtig. Aber hinter dem Lenkrad ihres Wagens wich diese Einsicht einem anderen Gefühl. Einer ungeahnten Leichtigkeit, die ihre Seele ein Stück in den Himmel hob. Wenn sie schnell fuhr, überholte sie den Frust, die Sorgen und was sonst an ihrem Gemüt nagte.
Vielleicht wäre sie besser Rennfahrerin geworden. Ein Traum, der ihr verwehrt geblieben war, obwohl ihr Vater selbst Motorsport betrieb. 1981 sogar Bayerischer Rallyemeister geworden war und noch unzählige andere Pokale eingeheimst hatte. Wenn ihr Vater nach den Rennen heimgekommen war, hatten seine Hosen nach Benzin und Reifenabrieb gerochen. Und wenn er sich zu ihr heruntergebeugt hatte, um ihr einen Kuss zu geben oder ihr den gewonnenen Pokal zu zeigen, konnte sie auch den Alkohol in seinem Atem riechen. Aber das hatte sie nicht gestört, weil sie seine Trophäe herumtragen durfte. Zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer, die missmutig auf dem Sofa gesessen und »Nicht noch einer!« gesagt hatte.
Mitgenommen hatte er Kristina nie. Sie war ein Mädchen, warum sollte sie sich für Autorennen interessieren? Sie hatte nie den Mut gefunden, ihn zu fragen. Er war unnachgiebig, genau wie sie.
Durch die Ritzen der heruntergelassenen Rollladen blitzte die Sonne. Es war schon spät, denn das Morgenlicht kam erst gegen acht Uhr um die Ecke des
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