Die Kälte in dir (German Edition)
Bad kam, war das Lächeln vom Vorabend verschwunden, ebenso wie der weiche Tonfall.
»Lass uns nach Stuttgart fahren.«
Kristina wollte keine Zeit mehr verlieren. Nicht nur, dass sie zu lange geschlafen und länger im Bad benötig hatte als sonst. Sie vertrödelten zudem einige Minuten damit, Daniels linken Schuh zu suchen, den er schließlich unter ihrem Sofa fand.
Sie gingen zu Fuß, da der Bus sonntags nur stündlich fuhr, womit der fünfzehnminütige Marsch die bessere Option war. Die Stadt war am frühen Vormittag wie ausgestorben, nur die Glocken der Michaelskirche, die zur Morgenmesse riefen, zeugten von der Existenz anderer Menschen.
Es herrschte peinliches Schweigen zwischen ihnen, während sie nebeneinander durch die Altstadt liefen, über den Alten Postplatz, am Landratsamt vorbei, zum Präsidium. Eine Sekunde lang dachte Kristina, er würde nach ihrer Hand greifen, auf halbem Weg über den Rathausplatz. Aber sie hatte sich getäuscht. Er machte keine Anstalten, ihr näher als einen Meter zu kommen. Sicher bereute er die Nacht genauso, wie sie es tat.
Kristina schickte Daniel in die Tiefgarage, um das Auto zu holen, während sie im Büro die Adresse raussuchte. Kurz haderte sie mit sich und überlegte, vorher anzurufen, doch dann entschied sie sich dagegen.
Daniel wartete vor dem Gebäude, lächelte vorsichtig, als sie einstieg. Kristina ging nicht darauf ein, sondern versuchte, sich auf die bevorstehende Unterhaltung zu konzentrieren.
Er brauchte zwanzig Minuten bis in den Stuttgarter Osten, womit er ihre Geduld wieder an die Grenze der Strapazierbarkeit brachte, da er sträflich langsam über die leere vierspurige Bundesstraße tuckerte. Sie übte sich in der Bauchatmung. Auch wenn sie dem ganzen Yogazeugs nie wirklich etwas abgewinnen konnte, schien es zu helfen. Kai hatte darauf geschworen, aber an den wollte sie jetzt erst recht nicht denken. Genauso wenig wie an Daniel Wolf, nur der saß leider neben ihr. Am liebsten hätte Kristina das
Sie
wieder eingeführt.
Daniel parkte am Ostendplatz. Sie hatte nicht die Nerven, ihn anzuweisen, im Wagen zu warten. Mit Ignorieren fuhr sie im Moment besser.
Mach ihn unsichtbar!
Das Haus aus den Fünfzigern hatte eine triste, graue Fassade. Das Erdgeschoss beherbergte eine Bäckerei, die auch am Sonntag geöffnet war. Der Hauseingang lag gleich neben der Ladentür. Die Verkäuferin hinter dem Tresen musterte sie argwöhnisch, und selbst die beiden Kunden drehten sich nach ihnen um und glotzten durch das Schaufenster, während sie auf ihre Brötchentüten warteten.
Der Name auf dem Klingelschild war kaum noch zu lesen. Es meldete sich eine brüchige, leise Stimme.
Nachdem Kristina gesagt hatte, dass sie von der Polizei waren, kam es aus der Gegensprechanlage: »Gott sei Dank, endlich sind Sie da!«
Marlies Steinmann musste um die achtzig sein. Ihr Zittern konnte aber auch von der Aufregung herrühren. Die alte Frau in ihrer geblümten Kittelschürze hatte darauf bestanden, ihnen Kaffee zu servieren, und nun verschüttete sie ihn beim Einschenken in die Porzellantassen. Die Situation überforderte sie. Nur widerwillig fand die Seniorin ihren Platz auf dem ausgeblichenen Polstersessel, während sie ihnen das ebenso verbrauchte Sofa überlassen hatte. Fahrig wischten ihre greisen Hände imaginäre Fussel von ihrem Rock. Das unfrisierte Haar war schlohweiß. Das billige Kassengestell der Brille rutschte fortwährend über ihre Nase. Der Kaffee dampfte vor ihnen auf dem rustikalen Couchtisch mit dem aufgerissenen Furnier.
Kristina behielt die Ruhe. »Frau Steinmann, wo ist Carola?«, versuchte sie es freundlich, aber eindringlich.
Hinter den gelbstichigen Gardinen hörte man überdeutlich das Rattern der Stadtbahn. Kristina erwartete beinahe, dass Putz von der Deck bröckelte.
»Aber das müssen Sie doch wissen!«, beharrte Marlies Steinmann, die ihre Enttäuschung darüber, dass die Polizei ihre Tochter nicht zurückgebracht hatte, offenbar nicht überwinden konnte.
»Ich wiederhole mich: Ihre Tochter war gestern nicht bei uns in der Dienststelle.«
»Nein, nein, das ist unmöglich. Sie ist um kurz nach zehn hier los, um mit dem Zug nach Waiblingen zu fahren. Ich verstehe das alles nicht! Die ganze Nacht ist sie nicht heimgekommen. Und statt sie mir wiederzubringen, halten Sie Carola eingesperrt. Dabei hat sie nichts getan, warum glauben Sie mir nicht? Ich habe solche Angst …« Sie fing an zu weinen.
Diese Wohnung spiegelte das Schicksal ihrer
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