Die Kälte in dir (German Edition)
Bewohnerinnen wider. Mutter und Tochter unter einem Dach. Beide Witwen, die in wechselseitigem Bedauern ihr Dasein fristeten.
Die Wohnzimmermöbel stammten eindeutig noch von Marlies. Das Arrangement der Bilder an der Wand über dem Tisch in der Essecke schrieb sie der Tochter zu. Rotstichige Fotos ihrer getöteten Kinder, die immer mehr verblassten, genau wie die Erinnerung an die einst intakte Familie. An das Lebensglück, das ihr genommen worden war und das nie wieder zurückkehrte. Die Einrichtung, der Mief einer besseren Vergangenheit, die gebrechliche Mutter, die Carola wieder aufgenommen hatte, nachdem jegliche Perspektive zerstört worden war, und von der sie nun nicht mehr loskam, weil das schlechte Gewissen es nicht zuließ. Oder die Depressionen und die gegenseitige Abhängigkeit. Vielleicht hatte Carola Walz während ihrer Zugfahrt nach Waiblingen einfach beschlossen, der Trostlosigkeit ihres Lebens zu entfliehen und ein neues Glück in der Ferne zu suchen?
»Hat Carola Freunde, bei denen sie sein könnte?«, fragte Kristina.
Wieder schüttelte Frau Steinmann den Kopf.
»Überlegen Sie bitte. Fällt Ihnen sonst ein Ort ein, zu dem sie gerne geht?«
»Sie ging nicht raus, verstehen Sie das denn nicht?«
»Kam Ihnen Carola in letzter Zeit verändert vor? Vielleicht hat sie einen Mann kennengelernt?«
Die Alte schob die Brauen zusammen und blickte mit rot geheulten Augen zornig durch ihre dicken Brillengläser. Sie wischte die Tränen von ihren faltigen Wangen und für eine Sekunde befürchtete Kristina, sie würde nach ihrer Tasse greifen und ihnen den heißen Kaffee trotzig ins Gesicht schütten.
»Nein, niemals! So etwas hätte sie mir nicht verschwiegen. Geben Sie doch endlich zu, dass Sie Carola verhaftet haben!«, zischte die alte Frau und verfiel ein Blinzeln später wieder in eine flehende Haltung. »Bitte, bitte, geben Sie mir meine Tochter zurück! Ich habe sonst niemanden mehr auf dieser Welt!«
Mit einem Foto der vermissten Tochter verließen sie die Wohnung der verzweifelten alten Frau. Kristina hatte ein weiteres Problem, das sie eigentlich an die Stuttgarter Kollegen abgeben musste. Carola Walz fiel nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Noch lagen keine Verdachtsmomente gegen sie vor, doch die Sache war merkwürdig. Immerhin hatte sie nichts mitgenommen, glaubte man der Aussage der Mutter. Auch kein Geld. Obwohl davon ohnehin nicht viel da war. Die Frauen lebten von Sozialhilfe und der kläglichen Rente der Mutter.
Nachdem sie wieder im Auto saßen, rief Kristina im Büro an. Sonja nahm das Gespräch entgegen.
»Carola Walz ist abgängig«, informierte sie die Kollegin. »Du hast zuletzt mit ihr gesprochen, was genau hat sie gesagt?«
»Nachdem ich ihr erklärte, warum wir mit ihr sprechen wollen, sagte sie nach anfänglicher Zurückhaltung zu. Meinst du, ihr ist was passierst?«
»Ich hoffe, es klärt sich auf, nicht nur wegen uns. Kannst du bei der Stuttgarter Dienststelle anfragen, ob sie was wissen?«
»Mache ich. Auch die Krankenhäuser?«
»Ja. Gehen wir auf Nummer sicher«, antwortete Kristina.
Sie ließ sich von Daniel zum Bahnhof Bad Cannstatt fahren und schickte ihn heim. Er protestierte nicht, wirkte vielmehr erleichtert. Womöglich war er nach ihrer gemeinsamen Nacht und dem peinlichen Morgen danach genauso froh, ihr den Rest des Tages aus dem Weg gehen zu können? Sie vereinbarten, dass er den Dienstwagen mitnehmen und damit am nächsten Morgen pünktlich im Präsidium erscheinen sollte.
Kaum war Kristina ihn los, fühlte sie sich befreit. Jetzt konnte sie unbelastet nachdenken. Sie erwischte die nächste S-Bahn nach Waiblingen, hockte sich in ein freies Abteil und begann, ihre Gedanken auf die Ermittlungen zu konzentrieren.
Aus den beiden Mordfällen war ein Fall geworden, daran gab es für sie keinen Zweifel mehr. Kristina musste überlegen, wie sie ihre Rumpfmannschaft am effektivsten einsetzen konnte. Auch wenn sie immer noch kein rechtes Motiv erkannte, musste sie unbedingt die Fahndung nach Jakub Piecek vorantreiben. Die Vermutung war schwach, aber er konnte ein Bindeglied zwischen dem ersten Tatort und dem Recyclinghof sein. Der Mann war bislang polizeilich noch nie auffällig gewesen. Das hatte sie überprüft. Doch das besagte nur, dass man ihn bisher noch nie bei seinen krummen Geschäften erwischt hatte. Mord war allerdings ein anderes Kaliber, als illegale Waren in den ehemaligen Ostblock zu verschieben. Hatte Piecek die Kontrolle verloren?
Wenn er
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