Die Kälte in dir (German Edition)
sie.
Er schüttelte den Kopf. Entweder glaubte er ihr nicht, oder er verdammte die Mordserie mit dieser Geste.
»Schlimm«, kam es aus seinem Mund, zusammen mit einem Schwall Speichel, der an seiner Unterlippe hängen blieb.
Sie verbot sich, darauf zu starren, so wie sie sich antrainiert hatte, nicht auf den stets halb gefüllten Urinbeutel zu glotzen, der am Rollstuhl hing, und konzentrierte sich auf seine Augen.
»Willst du es hören?«, fragte sie, wohl wissend, dass die halbe Stunde Audienz, die ihr gewährt wurde, nicht ausreichte, um ins Detail zu gehen.
»Keine Aufregung«, presste er hervor und deutete mit der gesunden Hand über seine Schulter Richtung Küche.
Kristina schmunzelte konspirativ. »Ja, sie hat mir untersagt, dich aufzuregen. Wenn du meinst, es wird zu viel für dich, lasse ich es.«
Diesmal erfolgte das Kopfschütteln energischer, und sie lächelte erneut. Nicht allein, weil er unbedingt von ihr hören wollte, wie es um die Ermittlungen stand, sondern weil nun auch sie registrierte, dass der Hauptkommissar Fortschritte machte.
Bei ihrem ersten Besuch hatte sie kein Wort von dem verstanden, was er zu sagen versuchte. Damals konnte man nicht einmal von Worten sprechen. Es waren nach Hilfe schreiende Laute gewesen, die ihr in Mark und Bein gegangen waren.
Und jetzt?
Auch wenn es noch nicht zu ganzen Sätzen reichte, musste sie kein einziges Mal nachfragen, was er sagte. Das machte Hoffnung.
Es blieb bei einem Monolog ihrerseits, den er ab und an mit einem Nicken kommentierte. Albrecht Holle, dessen ausgezeichnetes kriminalistisches Gespür in einem unbrauchbaren Körper gefangen war, aus dem es nicht ausbrechen konnte, hatte womöglich eine Lösung parat, war allerdings nicht in der Lage, sie Kristina zuzuflüstern.
Wahrscheinlicher war jedoch, dass auch er zuerst über das Gehörte nachdenken musste, sonst hätte er ihr mit jeder ihm möglichen Geste versucht, verständlich zu machen, wo sie ihren Mörder zu suchen hatte.
Ich habe seinem Verstand Arbeit gegeben
, kam ihr in den Sinn. Das konnte nichts Schlechtes sein, entschied sie für sich und erhob sich aus dem weichen Sessel. Er drückte ihre Hand zum Abschied und sie strich ihm über die faltige Wange.
»Wenn ich das nächste Mal komme, sitzt er hinter Schloss und Riegel«, versprach sie.
Von Holles Haus aus benötigte sie gut zehn Minuten bis ins Büro. Die Zuversicht, die sie durch den Besuch bei ihrem alten Chef kurzweilig erlangt hatte, blieb dabei auf der Strecke. Ungeahnt kraftlos schleppte sie sich die Treppe hoch.
Im Flur kamen ihr zwei kleine Jungs entgegengerannt. Sie trugen kurze Hosen und knallbunte T-Shirts und glucksten lautstark, ohne dass Kristina einen Grund dafür erkennen konnte.
Für eine Sekunde beneidete Kristina sie um die kindliche Ausgelassenheit, die sie selbst in den Gängen einer Polizeistation nicht unterdrückten. Vor ihrem Büro wartete eine groß gewachsene Frau mit braunem Lockenkopf. Hatten die Kollegen endlich eine brauchbare Zeugin aufgetrieben? Die Erwartung beschleunigte Kristinas Schritt. Das Gelächter der Kinder hallte durch den Gang.
»Tut mir leid, aber wir warten schon eine Weile, und wenn ihnen langweilig wird, sind sie kaum zu zügeln«, entschuldigte sich die Frau, noch ehe sie Kristina die Hand reichen konnte. »Sind Sie Frau Reitmeier?«
Kristina nickte und drehte sich nach den Rabauken um. »Nicht so wild, wenn hier mal Schwung in die Bude kommt.« Dann wandte sie sich wieder der Mutter zu. »Was kann ich für Sie tun?«
»Eva Wiegand. Ich bin Werner Finckhs Schwiegertochter.«
Wieder blickte Kristina zu den Kindern, die laut trampelnd auf dem Rückweg waren. »Ich dachte, er nimmt sie mit zum Fischen«, raunte sie. Oberhalb ihres Magens machte sich ein ungutes Ziehen bemerkbar.
»Ja, er wollte gestern früh mit ihnen los. Deshalb bin ich hier. Ich dachte, dass er wegen dieser Mordfälle, von denen die Zeitung schreibt, seinen Urlaub verschieben musste. Doch er hat weder abgesagt noch ist er zu erreichen.«
»Er war Freitag zum letzten Mal in der Dienststelle«, erklärte Kristina.
Werners Enkel rannten um ihre Beine und versteckten sich dann hinter der Mutter. Es kostete plötzlich enorme Kraft, ihnen entgegenzulächeln.
»Bei ihm zu Hause macht keiner auf. Da waren wir schon«, erklärte Finckhs Schwiegertochter.
»Was ist mit seiner Frau?«, fragte Kristina, während die Beklemmung unaufhaltsam ihre Speiseröhre hochkroch.
»Oh, Sie wissen es nicht … Dabei ist es
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