Die Kälte in dir (German Edition)
Essensresten. Kristina war im Halbdunkel des Flurs verschwunden. Daniel folgte dem Knarren einer Holztreppe.
Der Geruch drang unvermittelt in seine Nase.
Auch wenn ihm die Erfahrung fehlte, ahnte er, was da mit einem Mal penetrant in seine Schleimhäute biss. Sein Verdauungstrakt schrumpfte zu einem Stein, während er Kristinas Schritten hinab in den Keller folgte.
Er fand sie in der Waschküche. Durch den Lichtschacht drang die Sonne und beleuchtete die Szenerie wie zum Hohn. Das braunrote Rinnsal hatte sich seinen Weg in den Fugen der ockerfarbenen Bodenfliesen bis hin zum Ablaufgully gebahnt. Durch das rostige Gitter, hinein in das schwarze Loch des Abflussrohrs, war das Leben des Mannes gesickert, der dort am Boden in dem Spalt zwischen Waschmaschine und Trockner kauerte, und dessen leere Augen ihnen vorwurfsvoll entgegenblickten.
Daniel entfuhr ein Laut, der Kristina aus ihrer Starre löste. »Wer ist das?«, flüsterte er.
»Einer von uns«, antwortete sie leise und ohne ihn anzusehen.
Daniels Unterleib fühlte sich an, als würde er jede Sekunde zu Staub zerbröseln. Er konnte sich nicht vorstellen, wer oder was Kristina an diesen Ort gelockt hatte. Doch sie hatte den richtigen Riecher gehabt, hierher zu kommen.
Allerdings zu spät.
Nicht um viel, und das verschlimmerte die ganze Sache. Das Blut, das sich auf den stumpfen Kacheln verteilt hatte, glänzte an manchen Stellen noch. Der Mörder hatte diesmal keinen allzu großen Vorsprung.
Ihrer Reaktion nach zu urteilen, kannte Kristina das Opfer. Daniel überkam das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, doch er traute sich nur, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Zweifelsohne befand sie sich in einem Schockzustand, und er wollte ihr signalisieren, dass er für sie da war, auch wenn er sich selbst nicht viel besser fühlte. Das war sein erster Tatort mit Leiche, und der Drang, aus diesem Keller hinaus in die Hitze des Sommers zu flüchten, wurde unerträglich. Widerstrebend blieb er jedoch an ihrer Seite, bis sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche zog und eine Nummer wählte.
»Ich brauche das komplette Team«, sagte sie und nannte die Adresse. Mehr Worte benötigte sie nicht. Dann wandte sie sich Daniel zu. Ihre Augen glänzten. Sie fasste ihn am Oberarm und betrachtete ihn eindringlich.
»Geh jetzt besser«, verlangte sie. »Ich melde mich, wenn ich dich brauche.«
Spurensicherer und Uniformierte zwängten sich durch den schmalen Flur, in dem die Angelausrüstung an der vollgehängten Garderobe lehnte. Aus der Waschküche flammte in Sekundenabständen das Blitzlicht des Polizeifotografen. Aus dem Wohnzimmer tönte Dechers Stimme, der lauthals telefonierte. Womöglich mit Retter oder dem Staatsanwalt.
Kristina konnte die Enge nicht mehr ertragen. Sie musste raus aus diesem Wahnsinn, bevor er sie vollends vereinnahmte.
Auf der Straße setzte sie sich auf die Bordsteinkante zwischen zwei Einsatzwagen. Verborgen vor den Blicken der Kollegen und der paar Neugierigen aus der Nachbarschaft, die sich nun doch eingefunden hatten. Zumindest einer dieser Gaffer würde eine Verbindung zu den Schlagzeilen ziehen, die seit gestern durch die Medien geisterten. Danach käme eins zum anderen. Die Unruhe nährte die Panik, weil das Böse weiter um sich griff. Aus dieser Hysterie heraus wuchs das Misstrauen. Erst gegenüber denen, die man nicht kannte, später – und umso stärker, je länger die Phase der Ungewissheit andauerte –, schloss man auch die nächsten Anrainer nicht aus. Ein Teufelskreis, in dem schließlich jeder jeden verdächtigte, womit Kristinas Arbeit noch schwieriger wurde. Jetzt, da der Mörder sich schon an denen vergriff, die angetreten waren, ihn zu jagen.
Werner Finckh.
Der Mann, der sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als in Pension zu gehen, und der es nun nicht mehr erleben würde. Wie hatte er sich nur überrumpeln lassen können? In seiner Urlaubseuphorie, den ersten, zappelnden Fisch an der Angel schon vor Augen … Das Lachen seiner Enkel in den Ohren … Es gab keine Kampfspuren. Er war seinem Mörder unbesorgt gegenübergetreten. So wie einem Bekannten.
War das möglich? Hatte Finckh den Täter gekannt und ihm daher gutgläubig die Tür geöffnet? Aber wie passte der Polizeibeamte zu den anderen Opfern, die alle in irgendeiner Weise verbunden waren? Weshalb ging der Täter das Risiko ein und ermordete einen Polizisten? Weil Finckh durch Zufall etwas entdeckt hatte, was ihn hätte überführen können? War das die Lösung?
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