Die Kälte in dir (German Edition)
mehr stellen.
Es wäre besser gewesen, sich anzukündigen. Wenn sie Pech hatte, war Holle nicht da. Sie kannte die Termine für seine ambulante Reha nicht. Da sie jedoch bis vor zehn Minuten selbst nichts von diesem Besuch gewusst hatte, vertraute sie einfach darauf, den passenden Zeitpunkt erwischt zu haben.
Falls er da war, würde er sie keinesfalls wegschicken, dafür kannte sie ihn zu gut. Sie besaß das Privileg, in seine selbst gewählte Isolation eindringen zu dürfen.
Trotzdem zögerte sie. Wollte sie ihn wirklich damit behelligen?
Sie öffnete das Gartentor und trat durch die wuchernde Thujenhecke, die noch erstaunlich grün war, bedachte man die mangelnde Pflege und die anhaltende Trockenheit.
Wie erwartet öffnete Holles Schwester die Tür. Die zweite Person, die er in seinem Haus duldete. Ihr Lächeln war herzlich, doch die Müdigkeit, die sich in ihr sechzigjähriges Gesicht gegraben hatte, konnte sie damit nicht verscheuchen.
»Du hast eine halbe Stunde, dann müssen wir los«, sagte Yolanda Holle, die genau wie ihr Bruder nie geheiratet hatte.
Ein Umstand, der Albrecht nun zugutekam. Seine Schwester kümmerte sich um ihn, soweit es ihre berufliche Situation erlaubte. Statt mit Vorfreude dem nahenden Ruhestand entgegenzufiebern, konnte sie sich nun auf unabsehbare Zeit auf die private häusliche Pflege ihres nächsten Verwandten einstellen. Die immer noch adrette, schlanke Frau mit der grauen Kurzhaarfrisur war deswegen bei ihrem Bruder eingezogen. In das Haus, das er bis zu seinem Schlaganfall allein bewohnt hatte.
»Es geht ihm besser, auch wenn die Hitze ihm zu schaffen macht«, mahnte Yolanda, während sie die Tür freigab.
Kristina verstand. Keine Aufregung für den Patienten.
Sie lehnte einen angebotenen Kaffee ab und steuerte Albrecht Holles Wohnzimmer an. Der Weg war ihr vertraut. Wie auch der Geruch, der eingezogen war, seit der Hausherr im Rollstuhl saß.
Der Hauptkommissar sah Besorgnis erregend alt aus, selbst im Zwielicht seines Refugiums. Oder gerade deswegen. Erneut versetzte ihr der Anblick ihres Mentors einen Stich in die Brust. Die wie in Granit gemeißelten Gesichtszüge, die unnatürlich starre Haltung. Kein Unterschied zum letzten Mal. Der rechte Arm lag verkrümmt auf der dafür vorgesehenen Lehne, fixiert mit einem Klettband. Die Neigung seines Kopfes tendierte ebenfalls in diese Richtung. Das lichte Haar war ordentlich gekämmt, auf eine Art, wie er es niemals selber frisiert hätte. Das rechte Lid hing auf Halbmast.
Worin sah seine Schwester die angekündigte Verbesserung seines Zustands?
Nun, sie hatte ihn jeden Tag um sich, vielleicht fielen ihr diese Nuancen besser auf. Kristina erkannte sie nicht.
»Hallo, Albrecht«, sagte sie vorsichtig und bemerkte, wie er auf ihre Stimme reagierte. »Ich dachte, ich schau mal wieder vorbei.« Sie verkniff sich die Erkundigung nach seinem Befinden, die anstandshalber an dieser Stelle hätte einfließen müssen.
Das wäre gewiss die taktloseste Frage gewesen, die man einem Albrecht Holle stellen konnte, der vor rund acht Monaten einen Schlaganfall erlitten hatte. Vor allem, wenn man den vitalen Mann vor diesem schwerwiegenden Ereignis gekannt hatte und nun sah, was nach dem Gehirninfarkt von ihm übrig war. Motorik und Sprachzentrum waren erheblich geschädigt. Eine vernichtende Diagnose für jemanden, der zwar glasklar im Kopf war, dessen Körper die Befehle, die sein Gehirn entsandte, jedoch nicht oder nur äußerst eingeschränkt umsetzen konnte. Nein, der Hauptkommissar wollte ganz gewiss nicht beantworten, wie es ihm ging. Er hätte nicht einmal die passenden Worte verständlich artikulieren können.
Kristina trat zu ihm an den Stuhl und drückte seine linke Hand. Es war weniger der schiefe Mund als vielmehr seine blassgrauen Augen, die lächelten, ohne dass die Traurigkeit aus seinen verzerrten Zügen wich.
Für drei Sekunden hielt sie seine Finger, die kalt waren und kraftlos. Dann setzte sie sich ihm gegenüber. Vor ihr auf dem Tisch stapelten sich Tablettenschachteln, daneben stand eine Schnabeltasse. Ein Sinnbild der Hilflosigkeit. Dazu die aufgeschlagene Tageszeitung. Vermutlich hatte Yolanda ihm vorgelesen, bevor Kristina geklingelt hatte.
Wie immer wusste sie nicht, womit sie beginnen sollte.
Sein Blick ruhte auf ihr, und sie suchte die Botschaft darin. Natürlich ahnte sie, was ihn interessierte. Die Zeitung auf dem Tisch zwischen ihnen war ein deutlicher Hinweis.
»Wir sind nah dran«, verkündete
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