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Die Kaempferin

Die Kaempferin

Titel: Die Kaempferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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Überheblichkeit kehrte zurück, hielt sich aber nicht, sondern bröckelte alsbald, bis Ottul den Kopfsenkte, wobei ihr einige Strähnen des langen Haars ins Gesicht fielen.
    »Ich … nicht kann.«
    Die Worte waren unverständlich, leise und heiser und voller Verzweiflung.
    Und im Fluss schmeckte ich Traurigkeit.
    »Was soll das heißen, du kannst nicht?«, hakte Avrell nach.
    Ruckartig hob Ottul den Kopf. Ihre Augen waren gerötet vor zurückgehaltenen Tränen. Sie konnte unseren Blicken nicht begegnen, nicht einmal Gwenns. »Ich bin antreul«, erklärte sie kaum vernehmbar, die dunkelblauen Lippen zusammengepresst, die zitternden Schultern herabgesunken. »Ich bin … vergessen.«
    Ich lehnte mich zurück und besann mich der rituellen Geste, die von der anderen Chorl-Begabten vollführt worden war. In Ottuls Gesicht war dabei ein Ausdruck unbeschreiblichen Grauens getreten, und sie war zurückgetaumelt, als wäre sie geschlagen worden.
    »Warum?«, fragte ich, obwohl ich es bereits zu wissen glaubte.
    Ottul begegnete meinem Blick. Ich war nicht sicher, ob sie geantwortet hätte, wäre die Frage von jemand anderem gestellt worden. »Ich bin gefangen. Ich bin … verloren.« Sie stolperte über das Wort und schaute kurz zu Gwenn.
    Plötzlich ergab der Tod der anderen Chorl, die wir nach dem Angriff in Amenkor gefangen gehalten hatten, einen Sinn. Sie hatten wochenlang darauf gewartet, gerettet zu werden; dann hatten sie sich selbst getötet, damit sie nicht »antreul« würden, vergessen.
    Oder sie hatten sich umgebracht, weil sie glaubten, bereits vergessen zu sein.
    »Und warum hast du die Chorl-Begabte getötet?«, fragte Avrell. »Weil du vergessen warst?«
    Ottul antwortete nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Aber sie zuckte zusammen, und ihre Blicke huschten zu Gwenn, bevorsie sich wieder von ihr lösten. Dann senkte sie erneut den Kopf und starrte auf den Boden.
    Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Avrell und Keven hinauszuschicken, um alleine mit Ottul zu sprechen, da ich überzeugt davon war, sie würde mehr preisgeben, wenn die beiden Männer nicht zuhörten.
    Dann jedoch setzte sich Gwenn in Bewegung und stellte sich vor Ottul. »Ich weiß es.«
    Alle in der Kabine erstarrten.
    »Was meinst du, Gwenn?«, fragte ich.
    Mit entschlossener Miene drehte sie sich mir zu. Dann aber biss sie sich auf die Lippe, als wäre sie unsicher.
    Ottul sagte irgendetwas und streckte eine Hand aus, um Gwenn an der Schulter zu berühren, ehe sie sich abwandte.
    Gwenn entspannte sich und holte tief Luft. »Sie hat es meinetwegen getan. Ich erinnere sie an ihre Schwester, die von der Ochea und anderen Begabten getötet wurde.«
    Mit gerunzelter Stirn schaute ich zu Ottul. »Das verstehe ich nicht.«
    Gwenn trat vor und sprach schnell, die Stimme von heißer Wut erfüllt. »Sie hat mir erzählt, was sie tun, um sich die Ringe in ihren Ohren zu verdienen, was sie durchmachen müssen. Es ist grauenhaft! Ganz anders als unsere Ausbildung. Sobald entdeckt wird, dass sie die Sicht verwenden können, werden sie ihren Familien weggenommen, in den Tempel verschleppt und dort versteckt. Und im Tempel werden sie auf die Probe gestellt. Wenn sie etwas nicht können – einen Schild weben, einen Schutzbann erschaffen –, werden sie geschlagen, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten ebenso – so lange, bis sie es können. Manchmal sind die Prügel so schlimm, dass die Begabte sich nicht davon erholt. Ottul sagt, dass sie zuerst in den Tempel kam und dass es ihr mit Müh und Not gelang, den vierten Ring zu erhalten, wofür sie Jahre gebraucht hat. Als sie ›ket‹ bestanden hatte – den zweiten Ring –, wurde ihre Schwester inden Tempel gebracht. Ottul hat gebetet, ihre Schwester möge nicht die Sicht besitzen, und hat versucht, sie zu beschützen, als sie im Tempel war …«
    Gwenn verstummte kurz und bändigte ihre anschwellende Wut. »Aber sie konnte es nicht. Eines Tages, als es ihrer Schwester misslang, ›ket‹ zu bestehen, schlugen die anderen Begabten sie bewusstlos und ließen sie im Sand liegen. Dort hat Ottul sie gefunden …«
    Wieder verstummte Gwenn, diesmal, weil sie sich an den eigenen Tränen verschluckt hatte. »Sie sagt, ich erinnere sie an ihre Schwester.«
    Ich wandte mich Ottul zu, die nach wie vor mit gesenktem Kopf ausharrte. »Du solltest dich wie die anderen Chorl töten, die wir gefangen hatten, nicht wahr? Weil du vergessen warst. ›Antreul‹.«
    Ottul zuckte zusammen, richtete sich dann aber trotzig

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