Die Kaempferin
Darryn ihm einen finsteren Blick zuwarf. Doch es war Hauptmann Catrell, der das Wort ergriff.
»Vorerst ja. Aber wie lange? Das Problem war nie, wohin die Chorl unterwegs sind, sondern die Chorl selbst. Wenn sie Venitte erobern, schweben wir in ebenso großer Gefahr, als würden sie geradewegs auf Amenkor zuhalten. Tatsächlich sogar in noch größerer Gefahr.«
Mehr, als Catrell ahnte. Ich tauschte einen Blick mit Avrell und Eryn. Beide hatten sich auf dieselbe Weise verhalten, als ich ihnen erzählte, was Westen von Fürst Pyre über die Bewegungen der Chorl erfahren hatte, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Wegen des zweiten Thrones. Wenn dieser sich in Venitte befand und die Chorl ihn nun, da der Geisterthron zerstört war, in die Hände bekämen …
»Was soll das heißen?«, hakte Darryn verärgert nach. »Warum sollten wir dabei helfen, Venitte gegen die Chorl zu verteidigen, wo wir doch selbst einen Angriff dieser Bestien nur mit knapper Not überstanden haben? Wir sind immer noch dabei, uns davon zu erholen. Wir können es uns nicht leisten, Venitte zu helfen.«
Alle am Tisch versteiften sich vor beleidigtem Zorn.
Alle außer mir. Ich verstand, worauf Darryn hinauswollte. Wir hatten uns in den Elendsvierteln denselben Instinkt angeeignet: überleben um jeden Preis. Was bedeutete, dass man sich selbst erhalten musste, ohne sich um die zu kümmern, die manzurückgelassen hatte. War die Bedrohung erst auf jemand anderen gerichtet, stahl man sich davon, um sich zu verstecken und die eigenen Wunden zu lecken; man vergaß das nächste Opfer, dankte der Regentin, dass man überlebt hatte, und sparte seine Kräfte dafür, sich selbst für die nächste Begegnung zu stärken.
Catrell schaute zu mir und wartete auf ein Nicken, bevor er fortfuhr: »Vom strategischen Standpunkt aus betrachtet, sieht es so aus, dass die Chorl, wenn sie Venitte in Beschlag nehmen, über einen Stützpunkt verfügen, der ihnen Zugriff auf praktisch alles ermöglicht, was sie benötigen – Lebensmittel, Holz, Stein. Außerdem sind von dort aus fast alle Seehandelsrouten einfach zu erreichen. Derzeit haben die Chorl die Boreaite-Inseln und die Bootsmannsbucht. Von den Inseln aus können sie zwar die Handelsstrecken überfallen, aber vom Festland trennt sie ein breiter Abschnitt des Meeres. Den können sie nicht überwachen und erwarten, alle Handelsschiffe zu erwischen, die dort vorübersegeln.«
»Allerdings führen fast alle Handelsstrecken durch Venitte«, warf Avrell ein. »Der Ort ist ein bedeutender Hafen, noch bedeutender als Amenkor, wenn es um die Schifffahrtsrouten geht. Gewiss, auch Amenkor ist als Knotenpunkt wichtig, aber vorwiegend als Zwischenhalt für jene Händler, die über den Land- oder Seeweg weiter nach Norden wollen, und durch den Pass zum östlichen Kandischen Kaiserreich als Kreuzung. Auch wenn es in letzter Zeit beunruhigend still um das Kaiserreich geworden ist.«
»Die Chorl könnten Venitte als Ausgangspunkt benutzen«, warf Eryn ein. »Dadurch hätten sie die Möglichkeit, jeden Ort an der Küste Frigeas anzugreifen. Auch wenn sie Amenkor jetzt nicht unmittelbar attackieren, könnten sie es künftig von Venitte aus tun … und somit aus einer wesentlich stärkeren Position.«
Darryn lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ich verstehe.«
Allerdings nahm er es nur widerwillig zur Kenntnis. In seinenAugen sah ich immer noch das Verlangen, die eigenen Wunden zu lecken, den Göttern zu danken und Venitte sich selbst zu überlassen.
Eryn musste es ebenfalls bemerkt haben. »Es gibt noch andere Gründe, weshalb es ein Problem darstellt, dass die Chorl die Aufmerksamkeit auf Venitte richten«, sagte sie.
Avrell nickte. »Amenkor unterhält einen Vertrag mit Venitte, eine Vereinbarung, an die beide Seiten sich seit Hunderten von Jahren halten. Wir sind Verbündete, was bedeutet, dass Amenkor im Kriegsfall zu Venittes Verteidigung eilen muss. Umgekehrt würde Venitte uns zu Hilfe kommen. Hätten wir Venitte vorgewarnt, dass die Chorl uns am ersten Frühlingstag angreifen wollten, wäre man dort vielleicht in der Lage gewesen, uns bei der Verteidigung der Stadt zu helfen.«
»Aber Venitte und Amenkor haben schon gegeneinander gekämpft«, sagte Darryn. »Im Fuhrmannskrieg und im Zehnjährigen Krieg.«
»Das waren Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Städten selbst«, erklärte Avrell. »Die neue Bedrohung aber stammt von außerhalb und ist weder ein Handelsstreit noch ein Missverständnis
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