Die Känguru-Offenbarung (German Edition)
darunter sein Kopffell in wirrer Unordnung. »Zum Beispiel ist der sogenannte ›freie Markt‹ natürlich kein freier Markt«, sagt es. »All die Liberalen und Neoliberalen, Lobbyisten und Wirtschaftsfuzzis, Bankpräsidenten und sonstigen Nutznießer, die sich jegliche staatliche Regulierung und Eingriffe in den sogenannten ›freien‹ Markt verbitten – allzu oft unter Postulierung seiner angeblichen Gott- beziehungsweise Naturgegebenheit –, übersehen dabei geflissentlich all die staatlichen Regulierungen und Eingriffe, ohne welche dieser sogenannte ›freie‹ Markt überhaupt nicht existieren könnte. Ganz grundlegendes Beispiel: Dass du etwas anbieten kannst, ohne dass ich es dir einfach wegnehmen darf, obwohl ich stärker bin als du, das ist eine von Menschen erdachte Regulierung, die zudem nur durch die Androhung eines staatlichen Eingriffes ihre Wirksamkeit entfaltet. Siehst du das ein?«
»Ja«, sagt der Mann hinter dem Obst- und Gemüsestand.
Ich nehme mir heimlich eine Blaubeere und schiebe sie in den Mund.
»Gut«, sagt das Känguru. »Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Du hast erkannt, dass das Wirtschaftssystem keine Naturgewalt ist, sondern durch Menschen geschaffen wurde, also auch von Menschen wieder verändert werden kann.«
»Klar«, sagt der Mann.
Ich nehme mir unbemerkt eine Erdbeere.
»Der freie Markt ist also keineswegs frei«, sagt das Känguru. »Wenn die Mächtigen vom freien Markt reden, dann meinen sie damit: frei von jeglicher Verantwortung.«
»Sehr treffend«, sagt der Mann.
»Danke«, sagt das Känguru geschmeichelt. »Da habe ich mich auch selber sehr gefreut, als mir diese Formulierung eingefallen ist.«
Ich stibitze eine Pflaume.
»Werden wir noch grundlegender«, fährt das Känguru fort. »Was ist der Sinn des Wirtschaftens? Wie würde man ein gutes Wirtschaftssystem definieren? Folgender Vorschlag: Ein gutes Wirtschaftssystem hat dafür Sorge zu tragen, dass mindestens im nötigen Umfang nützliche, angenehme, ja auch schlicht schöne oder leckere Güter produziert und gerecht verteilt werden. Bist du damit einverstanden?«
»Klingt vernünftig«, sagt der Mann.
Ich spucke den Pflaumenstein aus, nehme eine Birne und beiße hinein.
»Wenn man aber erst mal diese Definition akzeptiert hat, muss man doch zugeben, dass der Kapitalismus vor diesen Anforderungen völlig versagt«, sagt das Känguru. »Nicht nur, dass alles extrem ungerecht verteilt wird, es werden auch noch hauptsächlich nutzlose, unangenehme, hässliche und ekelhafte Güter produziert. Bist du meiner Meinung?«
»Ja«, sagt der Mann. »Zum Beispiel hat mein Sohn letztens so kleine Schuhe für unsere Katze mitgebracht, die haben unten jeweils einen kleinen Wischmopp dran. Aber der Reinigungseffekt ist wirklich minimal. Oder meine Frau, die hat so eine Art Zelt angeschleppt, dessen einziger Zweck es ist, beim An- und Abtransport des Christbaumes über diesen gestülpt zu werden, damit die Wohnung nicht vollgenadelt wird. Und wir sind Moslems. Wir feiern nicht mal Weihnachten. Und meine Tochter hat sich vor einiger Zeit im Drogeriemarkt eine Profikuscheldecke gekauft, eine Decke mit Ärmeln! So ein Schwachsinn. Leute, die so etwas kaufen, gehören eigentlich verprügelt und … »
»Gut, gut, gut«, sagt das Känguru.
Ich nehme mir eine Wassermelone.
»Fünf Euro«, sagt der Mann.
Ich lege die Melone zurück.
»Du siehst also ein«, sagt das Känguru, »dass die Regeln gemacht und nicht gegeben sind, du siehst auch, dass die aktuellen Regeln schlecht und unfair sind.«
»Ja«, sagt der Mann.
»Also frage ich dich: Sollte man diese Regeln ändern?«
»Das sollte man«, sagt der Mann.
»Wollen wir beide, hier und heute, damit anfangen?«
»Unbedingt!«
»Gibst du mir demnach jetzt diesen Pfirsich?«, fragt das Känguru.
»Für umsonst?«, fragt der Mann.
»Ja«, sagt das Känguru.
»Nein«, sagt der Mann.
»Also gut«, sagt das Känguru. »Noch mal von vorne.«
Der Mann vom Obst- und Gemüsestand seufzt und reicht dem Känguru wortlos einen Pfirsich.
»Siehst du«, sagt das Känguru zu mir, »man muss nur mit den Leuten reden.«
Wir hängen im Wohnzimmer rum. Das Radio läuft.
»Nachdem sich die wirtschaftliche Lage gestern ein wenig entspannt hatte, ist sie heute früh wieder sehr verspannt«, sagt der Nachrichtenmann. »Zugeschaltet ist jetzt ein Experte. Hallo.«
»Hallo.«
»Sie sind Experte. Was ist Ihre Meinung dazu?«
»Ich, als Experte, denke, wir sollten alle noch viel
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