Die Kaffeemeisterin
Stern?«
»Wieso?«, erwiderte der Junge mit großen Kulleraugen. »Rachel sagt das auch immer. Und es stimmt doch, oder bist du etwa Bäcker oder so etwas?«
Fragend blickte er Gabriel an.
Gabriel musste grinsen.
»Ich unterrichte zwar Cembalo und Geige, das stimmt«, sagte er freundlich an den Jungen gewandt, »aber eigentlich bin ich Komponist. Du weißt, was das ist, oder?«
»Einer, der Musik erfindet, nicht wahr?«, erwiderte der Junge ernst.
»Genau. Du hast eine Melodie im Kopf und schreibst sie auf. In Form von Noten. Für ein Instrument oder auch für viele, je nachdem, ob du zum Beispiel eine Violinsonate oder eine Orchestersuite komponieren willst. Oder eben eine Oper, also eine Art Theaterstück, dessen Handlung von der Musik bestimmt und bei dem vor allem gesungen wird. So etwas versuche ich gerade …«
Gabriel und Jakob hatten nicht mitbekommen, dass die anderen Familienmitglieder bereits in die Synagoge gegangen waren. Der Kalmeschores kam hastig angelaufen und begrüßte Gabriel respektvoll, aber zugleich ein wenig drängend.
»Herr Maestro, die Herrschaften warten bereits auf Sie! Es soll gleich losgehen. Der Rabbi ist auch schon da.«
Gabriel nickte Isaak Seligmann zu.
»Los, wir müssen rein, Jakob, sonst verpasse ich noch meine eigene Verlobung!«, kehrte er in die Realität zurück.
Doch statt ihm in die Synagoge zu folgen, blieb Rachels Bruder wie angewurzelt stehen.
»Was ist los mit dir, Schwager?«, rief Gabriel verwundert.
Jakob machte eine seltsame Bewegung mit der linken Schulter, als verspürte er einen heftigen Juckreiz in der Achsel, und zog eine Grimasse. Als Gabriel ihn fragend ansah, schüttelte er nur den Kopf. Sein Blick hatte sich in der Ferne verloren, als hörte er in sich hinein. Schließlich hüpfte er ein paarmal auf der Stelle und ergriff die ausgestreckte Hand des Geigers. Den linken Arm hielt er eng an die Brust gepresst, sodass sein Gang etwas Unbeholfenes bekam, wie bei einem Kriegsversehrten, der einen Schulterschuss abbekommen hatte und den Arm in der Schlinge trug.
Was hatte der Junge bloß? Gabriel musste lachen. Er hatte sich immer einen kleinen Bruder gewünscht. Jetzt würde er einen bekommen. Und so falsch konnte auch Rachel nicht sein, wenn sie Jakobs Schwester war.
Isaak Seligmann führte sie durch einen Seiteneingang der Synagoge in einen schmalen Gang hinein, der parallel zum Hauptraum lag, in dem die Gottesdienste stattfanden. Sie kamen an der Treppe zur Frauenempore vorbei, durchquerten eine Art Abstellkammer mit zahlreichen Kultgegenständen in den hohen Regalen und erreichten endlich das Hinterzimmer, das für Familienfeiern vorgesehen war. Hinter dem schweren, dunkel gebeizten Tisch hatte der Rabbi bereits Platz genommen.
»Gabriel, ich grüße dich!« Der Rabbiner hatte sich erhoben und reichte ihm quer über den Tisch die Hand. »Welch ein großer Tag! Ich freue mich so für dich.«
Gabriel kannte Schlomo Rapp, seit er ein kleiner Junge war. Er war froh, dass dieser große Gelehrte den Erusin, die Verlobungszeremonie, für ihn abhalten würde. Der Rabbiner war ein etwas weltabgewandter, aber stets heiterer Mann. Weit über Frankfurt hinaus wurde sein Werk über den venezianischen Gelehrten und Rabbiner Leone da Modena, an dem er seit Jahren arbeitete, mit Spannung erwartet.
»Sie alle wissen, was der Schtar Tna’im beinhaltet?«, kam er gleich darauf zur Sache.
Mit einer Handbewegung lud er die Brautleute ein, sich auf die beiden Polsterstühle vor dem Tisch zu setzen. Für die Angehörigen standen Holzstühle bereit, die sich in einer Reihe dahinter befanden.
Rachel nickte stumm und ließ sich graziös auf dem einen Sessel nieder. Gabriel, der sich neben sie gesetzt hatte, musterte sie unauffällig von der Seite. Er musste zugeben, dass sie mit ihrem ernsten Gesichtsausdruck und dem straff nach hinten gebundenen Haar sehr hübsch im Profil aussah. Sie würde erst nach der Hochzeit eine Kopfbedeckung tragen müssen, aber auch die würde ihrer klassischen Schönheit wohl keinen Abbruch tun. Sein Blick fiel auf ihre Hände, die zusammengefaltet in ihrem Schoß lagen. Obwohl ihre Finger schlank waren, wie ihm schon einmal aufgefallen war, wirkten die Hände mit den schweren Silberreifen an den Gelenken eher wie die einer Bäuerin als wie die einer vornehmen Dame. Ihr Rücken war so gerade, als hätte sie einen Stock verschluckt. Unwillkürlich richtete sich Gabriel ebenfalls auf und widerstand dem Drang, sich nach hinten umzudrehen,
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