Die Kaffeemeisterin
überhaupt so lange fort gewesen? Hatte ihr die Begegnung mit ihm denn gar nichts bedeutet?
Aufmerksam blickte Rachel ihm über die Schulter, während er seinerseits die Feder ergriff, sie in das Tintenfass tauchte und seinen Namen unter den ihren schrieb. Ein kleiner Tintenklecks war auf die untere Ecke des Papiers getropft.
»Du bist nicht ganz gescheit!«, setzte sich die Stimme in seinem Kopf gegen das pochende Kopfweh durch. Es fühlte sich an, als würde jemand von innen mit einem Hammer gegen seine Schädeldecke klopfen.
»Und nun lassen Sie uns zum Kinjan Sudar kommen!«, sagte der Rabbi, nachdem auch die beiden Väter umständlich den Vertrag unterzeichnet hatten. »Darf ich zunächst die Braut bitten?«
Mit einem Lächeln zog Rachel ein seidenes Tüchlein aus ihrem Rock und ließ es langsam auf die Fliesen segeln.
Gabriel blickte wie gelähmt auf das weiße Häufchen Seide zu seinen Füßen. Langsam ging er in die Knie und berührte das Taschentuch. Es fühlte sich zart und beinah knisternd an. »Halt!«, schrie die Stimme in seinem Kopf nun noch gellender als zuvor. Er wollte seine Finger um das feine Tuch schließen, doch es war, als verweigerten sie ihm den Dienst. Sie wollten ihm einfach nicht gehorchen.
»Was ist los?«, fragte seine Mutter erschrocken.
Plötzlich hörte Gabriel ein lautes Fiepen. Und während er sich noch fragte, ob auch das Fiepen aus seinem Kopf kam, hob er die Augen von dem zarten weißen Häufchen auf dem Steinfußboden und sah, wie sich das hübsche Gesicht von Rachels Bruder in eine schreckverzerrte Grimasse verwandelte.
Wieder machte Jakob Lazarus eine seiner seltsamen Verrenkungen, und unversehens sprang etwas Längliches, Pelziges aus seiner Jacke hervor und landete mitten auf dem Taschentuch. Mit bebender Nasenspitze schnüffelte das Tierchen einen Moment lang an dem Tuch herum, bis es in atemberaubender Geschwindigkeit begann, den Stoff in seine Backe zu stopfen.
»Verdammter Mist!«
»Jakob!«
»Kannst du nicht besser aufpassen, du Lausebengel?!«
»Hab ich dich endlich, du Ratte!«
Gabriel, seine Eltern und der Rabbi starrten von Jakob zu Brunhilde Lazarus, von dieser zu ihrem prustenden Mann, bis ihre Blicke schließlich an Rachel hängen blieben. Mit spitzen Fingern hielt die junge Frau die gelbbraun-weiß gefleckte Kreatur so am Nacken, dass sie alle viere von sich streckte und ihre schwarze Unterseite vorzeigte. Das Tier strampelte wild mit den Beinen und schien sich ziemlich unwohl in seiner Haltung zu fühlen. Ein langer weißer Zipfel hing aus seiner Schnauze. Die dick aufgeplusterte Backe zeigte, dass der Hamster dieses hervorragende Nestbaumaterial auf keinen Fall wieder hergeben würde.
Ein Feldhamster, stellte Gabriel verblüfft fest, ein ausgewachsener Feldhamster! Auch er hatte als Junge ein paar Exemplare dieser Sorte von seinen heimlichen Streifzügen rund um Frankfurt mit nach Hause gebracht.
»Das ist keine Ratte, das ist ein Hamster!«, schrie Jakob seine Schwester an. Er hob die Arme in die Höhe, um ihr das Tier abzunehmen. »Er heißt Herkules III. und ist ganz zahm. Ich nehme ihn immer mit. Es hat nur heute einfach zu lange gedauert, da hat er sich wohl gelangweilt und ist mir abgehauen«, fügte er an Gabriel gewandt hinzu.
Joel Lazarus schlug sich wiehernd auf die Schenkel, Elias Stern verkniff sich nur knapp ein Schmunzeln, dem Rabbiner kullerten Lachtränen unter den Brillengläsern hervor, und sogar die beiden Mütter kicherten verhalten. Nur Gabriel war kein bisschen zum Lachen zumute.
»Die Zeremonie ist nicht rechtsgültig!«, erklärte Schlomo Rapp bemüht streng. »Das brauche ich ja wohl kaum zu sagen. Wir müssen das Ritual wiederholen.«
Gedankenverloren griff Gabriel in seine Westentasche und holte eine von Jehudas Kaffeebohnen hervor. Während sich Rachel mit ihrer Mutter und ihren Schwestern beriet, während Joel Lazarus den Hamster festhielt und Gabriels Eltern auf den Rabbi einredeten, breitete sich der Geschmack der dunkel gerösteten Bohne in seinem Mund aus. Es war ihm, als würde er plötzlich zur Besinnung kommen. Die Stimme in seinem Kopf war verstummt, aber er war sich auf einmal ganz sicher, dass er im Begriff stand, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen. Warum bloß hatte er es so weit kommen lassen? Wie sollte er sich nun aus dieser Sache wieder herauswinden? Es war fünf vor zwölf, also allerhöchste Zeit, wenn er die Flucht ergreifen wollte. Was würde passieren, wenn er einfach aufstand und zur Tür
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