Die Kaffeemeisterin
Wehrturm, dachte Gabriel und rückte seinen Stuhl so zurecht, dass er den Vater wieder vollständig sehen konnte. Die Dinge schienen schlimm zu stehen, wenn er solche Schwierigkeiten hatte, sein Anliegen hervorzubringen.
»Es geht um Rachel, oder?«, kam er dem Vater zu Hilfe, als dieser nach einer schier endlos erscheinenden Weile des Schweigens noch immer nicht mit der Sprache herausrückte.
Elias Sterns Hände spielten mit der Brille, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er hatte lange, schmale Finger, genau wie er, Gabriel, nur dass seine Haut schon etwas Pergamentenes an sich hatte. Sie wirkte, als wäre sie zu groß für die Muskeln und Knochen, die sie umhüllte.
»Ja, es geht um deine Verlobte«, sagte Elias Stern endlich.
Er machte eine abwehrende Handbewegung, als wollte er jeden Einwand Gabriels im Keim ersticken.
»Wir – deine Mutter, deine künftigen Schwiegereltern und ich – haben uns überlegt, dass es besser ist, wenn ihr noch vor Chanukka dem Erusin die Chuppa folgen lasst und unter den Traubaldachin tretet.«
»Moment mal, Vater!«, unterbrach Gabriel ihn heftig. »Ihr seid doch nicht ernsthaft der Ansicht, dass diese lächerliche Veranstaltung von neulich als ›Verlobung‹ zu bezeichnen ist? Erinnere dich bitte daran, dass wir den Kinjan Sudar nicht vollzogen haben! Ich betrachte mich keineswegs als rechtsgültig verlobt!«
Seit jenem Unglückstag vor drei Wochen hatte er Rachel nicht wiedergesehen. Auch hatten weder sein Vater noch seine Mutter mehr mit ihm über die Ereignisse während der Verlobungszeremonie gesprochen. Nach seiner Flucht aus der Synagoge war er stundenlang auf den Feldern außerhalb Frankfurts herumgeirrt, bis hinter Bornheim, und erst kurz vor Schließung der Tore wieder nach Hause gekommen. Er hatte sich leise in sein Zimmer geschlichen, um den vorwurfsvollen Gesichtern der Eltern nicht begegnen zu müssen. Auch in den Tagen danach war er ihnen aus dem Weg gegangen. Oder sie ihm, wie man’s nahm. Auf jeden Fall war irgendwann der Zeitpunkt überschritten gewesen, da man noch über den Vorfall in der Synagoge hätte sprechen können. Irgendwann war er zu dem Schluss gekommen, dass es wohl besser sei, alles auf sich beruhen zu lassen und den Mantel des Schweigens darüberzubreiten. Er hatte gehofft, dass die Angelegenheit einfach erledigt war und er der Familie Lazarus nie wieder begegnen musste. Hin und wieder hatte ihn zwar sein schlechtes Gewissen Rachel gegenüber geplagt, die sicher nicht sehr glücklich über den Ausgang dieses für sie so wichtigen Tags gewesen war. Aber er hatte diese Anwandlungen stets schnell wieder verdrängt.
Elias Stern war aufgestanden und überragte nun deutlich den Bücherstapel auf seinem Schreibtisch. Seine beiden Hände hielten die Tischkante umklammert. Die Brille hatte er wieder aufgesetzt. Eine Festigkeit ging nun von seinem Blick aus, die Gabriel erschreckte.
»Du hast Glück, mein Sohn: Rachel hat dir dein unmögliches Betragen verziehen. Sie ist ein wirklich liebes Mädchen und hat dich sehr gern. Ich konnte auch Joel und Brunhilde Lazarus davon überzeugen, dass solche Empfindlichkeiten bei Künstlern nun einmal vorkommen würden. Du hättest im Moment eine schlechte Phase, weil du mit deiner Komposition nicht richtig vorankämst, habe ich ihnen erzählt. Das haben sie mir sofort abgenommen – sie sind nämlich sehr stolz darauf, dich als Schwiegersohn zu haben, Gabriel! Joel Lazarus hat zwar viel Geld mit seinen Pferden verdient und wird durch seine neue Position bald noch reicher werden. Auch von daher hat er sich großen Einfluss in der jüdischen Gemeinde von Worms erworben. Aber es gibt dort immer noch genügend Leute, die auf ihn herabsehen. Trotz seiner Verbindungen zum Hofe. Mit einem Komponisten in der Familie, der noch dazu in Italien beim großen Antonio Vivaldi studiert hat, sieht das ganz anders aus. Jeder andere hätte ja lieber einen Rabbiner, einen Arzt, einen Kaufmann oder einen Lehrer in der Familie. Oder jemanden mit viel Geld und guten Verbindungen. Nicht so die Lazarus’, die sind verrückt nach Musik.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr fort: »Du bist jung. Denk an deine Zukunft! Wie willst du mit deinem Beruf jemals genug Geld verdienen, um eine Familie zu ernähren? Der Rabbi hat die Verlobung letztlich doch als rechtsgültig anerkannt. Er hat sich erkundigt: Allein die Tatsache, dass du den Tna’im unterzeichnet hast, reicht vollkommen aus, um den Vertrag wirksam zu
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