Die Kaffeemeisterin
fest, dass ihre Fingernägel in ihre Handfläche stachen. Doch sie verspürte keinen Schmerz.
Und dann war der Augenblick der Wahrheit gekommen. In das Geräusch ihres Atems mischte sich das eines anderen Atems. Noch zwei Schritte, dann stand der Mann direkt vor ihr. Ja, es war ein Mann, kein Zweifel. Sie konnte seinen Schatten sehen, der gegen die Wand im Treppenhaus geworfen wurde, die schlanke, nicht sehr große Silhouette.
Der Mann schwieg. Als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Sekunden vergingen. Der Atem des Mannes wurde stockender, dann schneller. Sein Schatten geriet in Bewegung, als wäre er zusammengefahren.
»Johanna?«, fragte er schließlich ungläubig. »Johanna, bist du es wirklich?«
Der Mann trat vor und fasste sie bei der Schulter, um sie ein Stück weiter in Jehudas Laden hineinzuschieben, damit sie im Dämmerlicht zu stehen kam.
Johanna sog seinen Geruch ein. Diesen Duft würde sie immer erkennen, genau wie seine Stimme.
Gabriel starrte sie an. Seine Augen hefteten sich auf ihr Gesicht. Bedächtig setzte er seinen Geigenkasten ab und nahm ihr den Besen aus der Hand.
»Johanna«, sagte er noch einmal.
Und plötzlich wusste sie nicht mehr, was passiert war, wer da auf wen zugeflogen war, wer wen an sich gerissen hatte. Sie spürte nur Gabriels Arme, die sie umfangen hielten, seine warmen, zugleich weichen Lippen auf ihrem Mund, seinen festen Körper, der sich gegen den ihren presste, und sie glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen, zu vergehen, endlich angekommen zu sein, ihr Glück gefunden zu haben. Und sie schwor sich in diesem Augenblick, es nie, nie wieder loszulassen. Davon hatte sie immer geträumt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte: nur sie beide, ganz allein! Ein Moment, der so einzigartig, so überwältigend war, dass sie ihn ihr Lebtag nicht mehr vergessen würde.
»Johanna«, flüsterte Gabriel, ohne seine Lippen von den ihren zu nehmen. »Ich habe mich so nach dir gesehnt! Wenn du wüsstest, was alles geschehen ist in der Zwischenzeit! Ich habe dir so viel zu erzählen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
»Ich dir auch, Gabriel. So viel!«
»Wie froh ich bin, dass ich mich richtig entschieden habe!«
Er strich ihr mit den Lippen über den Hals. Seine Bartstoppeln kitzelten sie leicht. Johanna wurde schwindelig. Ihre Knie gaben nach. Was redete er da? Wieso küsste er sie nicht einfach? Er sollte nicht damit aufhören, nie mehr sollte er damit aufhören, sie immer halten, liebkosen, seinen Körper spüren lassen …
»Was meinst du mit ›richtig entschieden‹?«, brachte sie schließlich hervor.
Gabriel ließ von ihr ab. Sie sah, wie seine Augen sich plötzlich verengten.
»Ich meine damit, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, als ich vor meiner eigenen Verlobung davongerannt bin.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und stieß ein nervöses Lachen aus.
»Du bist was?«
Gabriel löste seinen Arm von ihrem Rücken und zeichnete mit dem Finger sanft die geschwungenen Konturen ihrer Oberlippe nach.
»Ja, ich bin vor meiner eigenen Verlobung davongerannt«, nickte er. »Und rate mal, warum!«
»Warum?«
»Deinetwegen! Ich habe an dich gedacht und gewusst, dass ich keine andere heiraten kann.«
Johanna schnappte nach Luft. Gabriel und heiraten? Erst jetzt begriff sie das ganze Ausmaß seiner Worte. Gabriel war einer anderen Frau versprochen. Oder zumindest versprochen gewesen. Aber was machte das für einen Unterschied, die andere war ja da. Sie hatte sich zwischen sie gedrängt, zwischen Gabriel und sie.
»Wer ist sie?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Eine Frau, die meine Eltern für mich ausgesucht haben. Sie heißt Rachel. Aber ich werde sie nicht heiraten.«
Johanna nickte stumm. Rachel. Die schöne Schäferin aus der Bibel, Jakobs Lieblingsfrau. Bestimmt war auch die echte Rachel eine Schönheit. Ob Gabriel sie auch geküsst hatte?
Der Geiger sah sie eindringlich an. Seine beiden Hände hatten die ihren ergriffen und drückten sie so fest, dass Johanna vor Schmerz fast aufgeschrien hätte.
»Vergiss Rachel, Johanna! Du bist meine Frau! Ich habe es immer schon gewusst. Aber jetzt weiß ich es einmal mehr. Und ich werde nie mehr daran zweifeln oder mich von irgendjemandem davon abbringen lassen.« Seine Stimme wurde drängender. »Auch wenn wir es vielleicht nie offiziell machen können: Lass uns unser Leben zusammen verbringen, Johanna! Es muss eine Möglichkeit geben. Lass uns von hier fortgehen,
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