Die kalte Legende
mögen. Mitunter mache ich mir die Mühe.«
Stella hing ihren eigenen Gedanken nach. »Vielleicht wird ja Ihr Billardsaal abgehört«, schlug sie vor. »Vielleicht ist in Ihrem Bürgerkriegsgewehr ein Mikro versteckt.«
Martin schüttelte den Kopf. »Wenn mein Loft verwanzt wäre, hätten sie gehört, dass ich den Fall abgelehnt habe, und sich nicht extra die Mühe gemacht, mich unter Druck zu setzen.«
Kastner legte seinen Kopf schief und dachte laut. »Der Tipp könnte vom FBI gekommen sein – vielleicht hat jemand meinen CIA-Führungsoffizier routinemäßig informiert, für den Fall, dass Sie für mich arbeiten würden. Aber den Gedanken hatten Sie vermutlich selbst schon.«
Martin war ungemein erleichtert, dass Kastner diesen Schluss zog. Es unterstrich seine Glaubwürdigkeit.
Kastner blickte Martin an und schob den Unterkiefer vor. »Stella hat gesagt, Sie hätten den Fall nicht angenommen. Wieso haben Sie es sich anders überlegt?«
Stella hielt die Augen auf Martin gerichtet, als sie zu ihrem Vater sagte: »Er hat’s sich nicht anders überlegt, er hat seinem Herzen einen Ruck gegeben.«
»Bitte beantworten Sie meine Frage«, forderte Kastner seinen Besucher auf.
»Sagen wir, aus Gründen einer ungesunden Neugier – ich möchte wissen, warum die CIA nicht will, dass gerade dieser verschwundene Ehegatte gefunden wird. Außerdem lasse ich mir nicht gern von einer unsympathischen, Eiswürfel kauenden Frau sagen, was ich zu tun oder zu lassen habe.«
»Ich mag Sie«, entfuhr es Kastner mit einem schiefen Lächeln. »Ich mag ihn«, informierte er seine Tochter. »Aber bei uns – beim KGB – hätte er es nicht sehr weit gebracht. Dafür ist er zu sehr Einzelgänger. Wir trauen Einzelgängern nicht über den Weg. Wir haben nur Leute rekrutiert, die sich als Rädchen im Getriebe ganz wohl fühlten.«
»Welches Direktorat?«, fragte Martin.
Martins unverblümte Frage ließ Stella zusammenzucken. Ihrer Erfahrung nach redeten die Leute meist um den heißen Brei herum, wenn es um Geheimdienstdinge ging. »Kastner, im Westen«, sagte sie zu ihrem Vater, der sichtlich verunsichert war, »redet man gern Tacheles.«
Kastner räusperte sich. »Das Sechste Hauptdirektorat«, sagte er mit guter Miene zum bösen Spiel. »Ich war stellvertretender Leiter des Direktorats.«
»Mm-hm.«
Der Russe blickte seine Tochter an. »Was soll das heißen, mmhm?«
»Dass ihm das Sechste Hauptdirektorat etwas sagt, Kastner.«
In Wahrheit hatte er mehr als nur eine flüchtige Bekanntschaft mit diesem Direktorat gemacht. Irgendwann Ende der Achtziger hatte Lincoln Dittmann einen KGB-Mitarbeiter in Istanbul rekrutiert. Lincoln hatte die Chance ergriffen, als ihm zu Ohren kam, dass der jüngere Bruder des Mitarbeiters ins Militärgefängnis gesteckt worden war, weil er während einer Paradeübung aus dem Tritt gekommen war. Der Ausbilder hatte ihm vorgeworfen, die Parade zu sabotieren, um die ruhmreiche Rote Armee in Misskredit zu bringen. Lincoln hatte den desillusionierten KGB-Offizier und seine Familie aus Istanbul herausgeschmuggelt und als Gegenleistung einen Mikrofilm mit Aufnahmen von Dokumenten des Sechsten Hauptdirektorats erhalten. Das Material verschaffte der CIA zum ersten Mal Einblick in die Operationen dieser bis dato geheimen Abteilung. Entstanden war das Direktorat in den sechziger Jahren zur Kontrolle von Wirtschaftsverbrechen. Als Genosse Gorbatschow dann 1987 neue Geschäftsformen legalisierte, die von den Sowjets »Kooperativen« und vom Rest der Welt »Unternehmen des freien Marktes« genannt wurden, war das Sechste Hauptdirektorat plötzlich für deren Kontrolle zuständig. Da die durch Inflation und Korruption auf höchster Regierungsebene gelähmte Wirtschaft stagnierte, florierte der Gangsterkapitalismus, und Kooperativen, die im Geschäft bleiben wollten, mussten sich Schutz erkaufen – und zwar bei den Banden, die in Moskau und anderen Städten zu Hunderten entstanden. Als sich das Sechste Hauptdirektorat außerstande sah, die Banden unschädlich zu machen und die entstehende Marktwirtschaft zu schützen, stellte es die entsprechenden Bemühungen einfach ein und beteiligte sich seinerseits an der allgemeinen Plünderung des Landes. Martin erinnerte sich an Stellas Äußerung, ihr Vater sei 1988 in die USA ausgewandert. Wenn er sich bei diesen Plünderungen bereichert hätte, wäre er geblieben und hätte sich ein schönes Leben gemacht. Demnach gehörte er zu den unverbesserlichen Sozialisten, die es
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