Die kalte Legende
sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit beenden konnten. Ein Stück weiter die President Street hinunter, auf der Rogers Avenue, machten die Lubawitscher den Afroamerikanern Platz, die in überfüllten Mietskasernen hausten. Laut aufgedrehte Ghettoblaster verschluckten das gelegentliche Gekreische von Junkies, die einen Schuss brauchten, sich aber keinen leisten konnten. Das westindische Viertel mit seinen sauberen Straßen und den Stadtteiltreffs und Partys im Freien, wo die jungen Leute bis zum Morgengrauen unterwegs waren, fing ein paar Querstraßen weiter südlich an, am Empire Boulevard. Sobald die Bewohner der verschiedenen Ghettos miteinander in Berührung kamen, waren die Spannungen greifbar, und jeder wusste, dass ein Funke genügte, um einen Großbrand zu entfachen.
Martin, der in sämtlichen Ghettos von Crown Heights ein Außenseiter war, hielt vorsichtshalber den Kopf gesenkt und blickte auch niemandem in die Augen, während er durch die Straßen ging. Die aufgehende Sonne brannte bereits die Frische aus der Luft, als er der Schenectady Avenue folgte, vorbei an einem Schaufenster, auf das in großen Lettern »Mietstreik« gepinselt war, vorbei an etlichen kaputten Einkaufswagen mit kleinen Blechtafeln daran, die sie als Eigentum von Throckmorton’s Minimarket auf der Kingston Avenue auswiesen und um Rückgabe baten. Sein Bein mit dem eingeklemmten Nerv fing an zu schmerzen, als er in die President Street einbog, eine breite Wohnstraße mit Bäumen und zweistöckigen Häusern auf beiden Seiten. Er trat vom Gehweg, um drei Lubawitsch-Frauen Platz zu machen, eine anämischer als die andere, alle drei in langen Röcken und mit Tüchern um die geschorenen Köpfe. Sie würdigten ihn keines Blickes, sondern plapperten einfach weiter in einer Sprache, die Martin nicht erkannte. Als er sich der Kingston Avenue näherte, sah er einen Krankenwagen mit Davidstern auf der Tür vor einem Haus parken, das in eine Synagoge umgewandelt worden war. Vorn im Fahrzeug saßen zwei pickelige junge Männer mit langen Schläfenlocken und bestickten Käppchen auf dem Kopf und hörten im Radio »It’s alright Ma (I’m Only Bleeding)« von Bob Dylan.
Martin überquerte die Kingston Avenue und las die Hausnummern. Es dauerte nicht lange, und er fand das große Haus, das Estelle Kastner ihm beschrieben hatte. Ein schmaler Plattenweg führte zu der Seitentür mit der brennenden Lampe. Er blieb nicht stehen, sondern ging an dem Haus vorbei und bog nach rechts in die Brooklyn Avenue und dann wieder nach rechts in die Union Street ein, wobei er die ganze Zeit darauf achtete, ob er verfolgt wurde – entweder zu Fuß oder per Auto. Er spürte eine gewisse Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als er stets ein oder zwei Aufpasser im Schlepptau hatte, die dafür sorgten, dass er sauber war, und falls nicht, hinter ihm aufräumten. Heutzutage musste er sich mit rudimentären Vorsichtsmaßnahmen seiner Zunft begnügen. Straßen, Einfahrten und Kreuzungen, die Eingangshallen von Gebäuden mit ihren Aufzügen, die Toiletten hinten in Restaurants und die Fenster in den Toiletten, die auf kleine Gassen gingen – das alles beobachtete er, als könnte eines Tages sein Leben davon abhängen, was er gesehen hatte.
Auf halber Höhe der Union Street stieg er die Stufen zur Tür eines Hauses hoch und drückte auf die Klingel. Ein alter Mann im Unterhemd riss oben ein Fenster auf und rief: »Was wollen Sie?«
»Ich suche eine Familie Grossman«, erwiderte Martin.
»Da sind Sie hier falsch«, brüllte der Mann. »Die Juden, die wohnen auf der President Street. Hier sind Gott sei Dank noch alle halbwegs katholisch.« Und schon zog er den Kopf zurück ins Haus und knallte das Fenster zu.
Martin blieb einen Moment stehen und tat verwirrt, während er die Straße in beide Richtungen absuchte. Dann ging er zurück zur President Street, bis er zu dem Plattenweg kam, der zu dem Seiteneingang mit der brennenden Lampe führte. Er wollte gerade an das Schild mit der Aufschrift »Hausieren unerwünscht« klopfen, als die Tür geöffnet wurde. Stella erschien in einer engen Jeans, in die sie ein Herrenhemd gestopft hatte, und sah ihn mit ihrem Silberblick an. Wieder waren die oberen drei Knöpfe ihres Hemdes geöffnet und zeigten dasselbe Dreieck blasser Haut. Seltsamerweise fand Martin sie attraktiver, als er sie in Erinnerung hatte. Zum ersten Mal nahm er ihre Hände wahr. Die Nägel waren weder lackiert noch abgekaut, die Finger unglaublich lang und elegant.
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