Die kalte Legende
dicken Packen Geld auf den Tisch, und das zu einer Zeit, als wir wegen des Wirtschaftschaos manchmal monatelang kein Gehalt bekamen. Was sollte ich tun? Nahm ich das Geld, stand ich auf seiner Gehaltsliste. Lehnte ich ab, war meine Lebenserwartung gleich null.«
»Also sind Sie nach Amerika übergelaufen.«
Kastner nahm seine Zigarette von der Untertasse und inhalierte tief, dann blies er langsam den Rauch wieder aus. »Es war die einzige Lösung«, sagte er.
»Nach allem, was Sie über Onkel Tsvetan wussten, wieso konnten Sie da noch Ihr Einverständnis geben, dass Ihre Tochter seinen Neffen Samat heiratet?«
Stella kam ihrem Vater zu Hilfe. »Kastner war einverstanden, weil er keine andere Wahl hatte.«
Kastner sagte sehr leise: »Sie können sich nicht vorstellen, wie das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus lief. Eines Morgens erhielt ich hier auf der President Street einen Brief. Er war auf teurem Papier mit Schreibmaschine geschrieben und nicht unterzeichnet, aber ich wusste gleich, woher er kam. Der Absender sagte, sein Neffe sei gezwungen, Russland zu verlassen, und zwar rasch, und es wäre am besten, wenn er nach Israel ginge. Damals standen Zehntausende von Juden an der israelischen Botschaft Schlange, weil sie ein Visum wollten. Der israelische Mossad fürchtete, die letzten Reste des KGB-Apparates würden versuchen, Agenten nach Israel zu schleusen, und ließen daher die jüdischen Antragsteller sehr gründlich durchleuchten. Und gründlich war gleichbedeutend mit langsam. Ugor-Shilow wusste anscheinend, dass meine Tochter Elena der Lubawitsch-Sekte beigetreten war, kurz nachdem wir in Crown Heights eine dauerhafte Bleibe gefunden hatten. Er wusste, dass die Lubawitscher erheblichen Einfluss ausüben konnten, wenn Juden nach Israel wollten – sie sorgten dafür, dass die israelische Einwanderungsbehörde das Verfahren beschleunigte, wenn eine Lubawitscher Heirat im Spiel war, erst recht, wenn die Jungvermählten vorhatten, in eine der neuen jüdischen Siedlungen im Westjordanland zu ziehen, wo die israelische Regierung damals möglichst viel Juden ansiedeln wollte.«
Martin bekam allmählich Platzangst in der stickigen Kammer. Er hatte eine instinktive Abneigung gegen geschlossene Räume ohne Fenster. »Etwas will mir nicht ganz einleuchten«, sagte er, während er die Tür beäugte und sich mühsam beherrschen musste, dass er sie nicht einfach aufstieß. »Wie konnte Tsvetan Ugor-Shilow Ihnen einen Brief schicken, wo Sie doch im Zeugenschutzprogramm des FBI steckten –«
Dann klappte Martins Unterkiefer runter, weil ihm die Antwort klar wurde, bevor Kastner sie ihm gab.
»Gerade weil er mir einen Brief schicken konnte«, sagte Kastner, »obwohl ich im Zeugenschutzprogramm war, kam es nicht mehr in Frage, ihm eine Absage zu erteilen. Tsvetan Ugor-Shilow ist einer der reichsten Männer Russlands, einer der fünfzig reichsten Männer der Welt, laut dem Artikel im TIME Magazine. Er hat einen langen Arm, lang genug, um jemanden zu erreichen, der mit einer neuen Identität auf der President Street in Crown Heights lebt.« Er warf Stella einen Blick zu und beide tauschten ein grimmiges Lächeln. »Auch lang genug«, fuhr Kastner fort, »um dessen zwei wunderschöne Töchter zu erreichen. Wenn der Oligarch um einen Gefallen bittet, ist es ungesund, nein zu sagen, wenn man an einen Rollstuhl gefesselt ist und nirgendwohin mehr überlaufen kann. Und der Schutz meiner Töchter steht für mich an erster Stelle.«
»Kastner konnte ja nicht ahnen, dass Samat Elena schlecht behandeln würde«, warf Stella ein. »Es war nicht seine Schuld –«
Kastner fiel ihr ins Wort. »Wessen Schuld denn sonst?«, sagte er niedergeschlagen.
»Ist es für Sie nicht sehr riskant, wenn Sie mich engagieren, Samat zu suchen?«
»Ich will doch nur, dass er meiner Elena die religiöse Scheidung ermöglicht, damit sie wieder heiraten kann. Was er danach mit seinem Leben anstellt, ist seine Sache. Das ist doch weiß Gott keine unzumutbare Bitte.« Kastner bewegte den Joystick, und der Rollstuhl fuhr mit einem leichten Rums rückwärts gegen die Wand. Er zuckte mit seinen schweren Schultern, als wollte er sich von einer Last befreien. »Wie machen wir das mit dem Geld?«
»Ich zahle erst mal alles mit Kreditkarte. Wenn die Kreditkartenfirma von mir Geld sehen will, bitte ich Sie, meine Spesen zu bezahlen. Wenn ich Samat finde und Ihre Tochter diesen get bekommt, sprechen wir darüber, was es Ihnen wert ist. Wenn ich ihn nicht
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