Die kalte Legende
Gorbatschow übel nahmen, dass er mit seiner »Perestroika« siebzig Jahre Sowjetkommunismus zunichte gemacht hatte. Kurz, Kastner war vermutlich ein ganz seltenes Exemplar, ein glühender, wenn auch mutloser Marxist, dazu verdammt, den Rest seines Lebens im kapitalistischen Amerika zu fristen.
»Sie denken so angestrengt nach, Ihnen kommt ja schon Rauch aus den Ohren«, sagte Kastner lachend. »Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«
»Ich mag Sie auch«, erklärte Martin. »Ich mag Ihren Vater«, sagte er zu Stella. »Tatsache ist, er hätte es bei der CIA nicht lange ausgehalten. Er ist viel zu idealistisch für einen Laden, der auf die Virtuosität seiner Pragmatiker stolz ist. Im Gegensatz zu Ihrem Vater interessieren sich Amerikaner nicht für den Aufbau einer Utopie, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie glauben, in einer zu leben.«
Stella wirkte verblüfft. »Ich bin froh, dass Sie Kastner mögen, und zwar aus den richtigen Gründen«, sagte sie leise.
Kastner, sichtlich nervös, ließ seinen Rollstuhl von einer Seite zur anderen wippen. »Wir müssen herausfinden, warum die Lady mit dem Pseudonym Fred Astaire nicht will, dass mein Schwiegersohn Samat gefunden wird.«
Martin gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Um das herauszufinden, werde ich Samat finden müssen . «
Stella verschwand, um Tee zu kochen, und kam kurz darauf mit einem Tablett wieder, auf dem ein Glas Honig und drei dampfende Tassen standen. Ihr Vater und Martin waren tief im Gespräch. Martin rauchte eine von seinen hauchdünnen Beedies. Ihr Vater hatte sich wieder eine Zigarette angezündet, hielt sie aber auf Armeslänge weg, damit der Rauch Martin nicht völlig umnebelte.
»… es irgendwie geschafft, die Unterlagen zu fälschen, damit die Partei nicht dahinter kam, dass seine Mutter Jüdin war«, sagte Kastner gerade. »Sein Vater war ein armenischer Arzt und Parteimitglied – irgendwann wurde er bezichtigt, ein Volksfeind zu sein, und nach Sibirien geschickt, wo er starb. Das nach Stalin ins Leben gerufene Programm zur Rehabilitierung von Leuten, die man fälschlicherweise eines Verbrechens bezichtigt hatte, kam Samat zugute, als er sich beim Forstinstitut bewarb. Der Staat hatte seinen Vater umgebracht, da wollte man bei dem Sohn etwas wieder gutmachen.«
Martin nickte. »Ich erinnere mich vage, mal was über euer berühmtes Forstinstitut gelesen zu haben. Da wurde alles Mögliche gelehrt, nur keine Forstwirtschaft.«
Kastner legte seine Zigarette auf einen Unterteller und rührte einen Löffel Honig in eine der Tassen. Dann pustete er geräuschvoll auf den dampfend heißen Tee und nahm einen kleinen Schluck. »Es war ein Geheiminstitut für unser Raumfahrtprogramm«, sagte er. »In den Siebzigern konnte man dort besser als sonst irgendwo in der Sowjetunion Informatik studieren. Samat ist anschließend in die Forschung gegangen, an die Wirtschaftsakademie der Staatlichen Planungsbehörde. Nachdem er als einer der Besten seines Jahrgangs seinen Abschluss gemacht hatte, wurde er vom KGB rekrutiert. Aufgrund seiner Computerkenntnisse kam er ins Sechste Hauptdirektorat.«
»Hatten Sie persönlich mit ihm zu tun?«
»Er wurde etlichen Fällen zugeteilt, an denen ich gearbeitet habe. Er entwickelte sich zum Experten für Geldwäsche – wusste alles über Off-Shore-Banken und Inhaberaktiengeschäfte. Als 1991 Gorbatschow entmachtet wurde, war eine der ersten Maßnahmen Jelzins, unser Komitee für Staatssicherheit aufzulösen, mit der Folge, dass sehr viele KGB-Offiziere plötzlich arbeitslos waren und von der Hand in den Mund lebten. Einer davon war Samat.«
»Da waren Sie doch schon in Amerika. Woher wissen Sie das alles?«
»Ihre CIA hatte mich ermuntert, mit dem Sechsten Direktorat in Verbindung zu bleiben. Ich sollte vor Ort Agenten anwerben.«
»Mit Erfolg?«
Kastner ließ ein gequältes Lächeln aufblitzen. Martin sagte: »Ich nehme die Frage zurück. Wir waren bei Samat, der anfängt, Stellenanzeigen zu studieren, als der KGB den Laden dichtmacht. Was für einen Job hat er ergattert?«
»Er hat für einen der aufgehenden Sterne im Privatsektor gearbeitet, für einen, der sein eigenes Modell entwickelt hatte, wie sich der Übergang vom Sozialismus zum marktorientierten Kapitalismus gestalten ließe. Seine Lösung war der Gangsterkapitalismus. Er war einer der Gangster, die das Sechste Direktorat zu meiner Zeit im Visier hatte. Samat mit seinen Kenntnissen der Geldwäschemethoden hat sich rasch zum Finanzgenie
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