Die kalte Legende
obwohl er beim Essen immer kräftig zulangte. Er war ein ziemlich überdrehter Typ, immer in Bewegung. Sein Gesicht sah aus, als hätte es in einem Schraubstock gesteckt – lang und schmal und traurig –, er sah immer so aus, als würde er um jemanden trauern, der ihm sehr nahe stand. Er hatte seetanggrüne Augen, die aber unglaublich emotionslos waren – kalt und berechnend, fand ich. Er trug teure italienische Anzüge und Hemden mit seinen Initialen auf der Brusttasche. Ich habe ihn nie mit Krawatte gesehen, nicht mal auf seiner eigenen Hochzeit.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Und ob. Der könnte seinen Kopf verhüllen wie ein Araber – wenn ich seine Augen sehen kann, picke ich ihn aus einer Menschenmenge heraus.«
»Womit hat er sein Geld verdient?«
»Nicht mit herkömmlicher Arbeit. Er hatte sich ein großes Haus gekauft, am Rande von Qiryat Arba, und bar bezahlt, das hat mir zumindest der Rabbi auf dem Weg zur Trauung in der Synagoge zugeflüstert. Er fuhr einen nagelneuen Honda und zahlte auch sonst immer alles bar, jedenfalls in meinem Beisein. Ich war zehn Tage in Qiryat Arba und dann zwei Jahre später noch einmal zehn Tage, aber ich habe nie erlebt, dass er mal in die Synagoge ging, um die Thora zu studieren, oder zur Arbeit in irgendein Büro wie die anderen Männer aus der Siedlung. Im Haus gab es zwei Telefone und ein Fax, und irgendein Apparat hat immer geklingelt. Manchmal schloss er sich oben im Schlafzimmer ein und telefonierte stundenlang. Wenn er mal in meinem Beisein telefoniert hat, dann nur auf Armenisch.«
»Hm.«
»Hm, was?«
»Hört sich nach einem von diesen neuen russischen Kapitalisten an, über die man dauernd was in der in Zeitung liest. Hat Ihre Schwester Kinder?«
Stella schüttelte den Kopf. »Nein. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, ich bin nicht mal sicher, ob sie die Ehe je vollzogen haben.« Sie rutschte zurück auf den Boden, ging ans Fenster und blickte hinaus auf die Straße. »Eigentlich kann ich es ihm gar nicht verübeln, dass er sie verlassen hat. Ich glaube, Elena – ich hab mich nie dran gewöhnen können, sie Ya’ara zu nennen – hat nicht den leisesten Schimmer, wie sie einen Mann befriedigen kann. Samat ist wahrscheinlich mit einer Wasserstoffblondine auf und davon, mit der er mehr Spaß im Bett hatte.«
Martin, der lustlos zugehört hatte, horchte auf. »Sie machen den gleichen Fehler wie die meisten Frauen. Wenn er mit einer anderen Frau auf und davon ist, dann nur deshalb, weil sie mit ihm mehr Spaß im Bett hatte.«
Stella drehte sich um und blickte Martin an. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Sie reden nicht wie ein Privatdetektiv.«
»Oh doch. So was hätte Bogart auch gesagt, um eine Klientin davon zu überzeugen, dass unter der abgebrühten Schale ein empfindlicher Kern ruht.«
»Wenn Sie das erreichen wollen – es funktioniert.«
»Ich habe eine Frage: Warum lässt ihre Schwester sich nicht von dem Rabbi bestätigen, dass ihr Mann sie sitzen gelassen hat? Dann kann sie sich doch von ihm in Abwesenheit scheiden lassen.«
»Das ist ja das Problem«, sagte Stella. »In Israel braucht eine religiöse Frau für eine Scheidung einen sogenannten Scheidebrief, den get, den nur ein religiöses Gericht schreiben kann. Ohne get bleibt eine jüdische Frau eine agunah, eine gekettete Frau, die nach jüdischem Gesetz nicht wieder heiraten darf. Selbst wenn sie nach dem Zivilrecht geschieden ist und neu heiratet, gelten ihre Kinder als unehelich. Und Aussicht auf einen get hat eine Frau nur, wenn ihr Mann vor einem Rabbinatsgericht erscheint und der Scheidung zustimmt. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, jedenfalls nicht für religiöse Menschen. Jedes Jahr verschwinden haufenweise chassidische Ehemänner, um ihre Frauen zu bestrafen – sie setzen sich nach Amerika oder Europa ab. Manchmal leben sie unter falschem Namen. Nach dem Motto, dann such mal schön! Laut jüdischem Gesetz darf der Ehemann unverheiratet mit einer neuen Frau zusammenleben, aber die Ehefrau hat nicht das Recht dazu. Sie darf nicht wieder heiraten, sie darf nicht mit einem Mann zusammenleben, sie darf keine Kinder bekommen.«
»Jetzt verstehe ich, wozu Sie einen Detektiv brauchen. Wie lange ist es her, dass dieser Samat das Weite gesucht hat?«
»Nächstes Wochenende sind es zwei Monate.«
»Und da kommen Sie erst jetzt?«
»Wir wollten erst eine Weile abwarten, ob er nicht doch wieder auftaucht. Dann haben wir noch einige Zeit mit Suchen
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