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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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einssiebzig.«
    »Darf ich Sie was fragen?«, sagte Stella.
    »Bitte, bitte«, sagte Martin ungeduldig.
    »Wieso machen Sie sich keine Notizen?«
    »Dafür besteht kein Grund. Ich mache mir keine Notizen, weil ich den Fall nicht übernehme.«
    Stella war enttäuscht. »Aber wieso denn nicht? Mein Vater bezahlt Sie auch, wenn Sie meinen Schwager nicht finden.«
    »Ich nehme den Fall nicht an«, erklärte Martin, »weil eine Nadel im Heuhaufen einfacher zu finden wäre als der Mann Ihrer Schwester.«
    »Sie könnten es wenigstens versuchen«, bettelte Stella.
    »Ich würde bloß das Geld Ihres Vaters und meine Zeit verschwenden. Hören Sie, die russischen Revolutionäre um die Jahrhundertwende ließen sich so einen Bart wachsen, genau wie Ihr Schwager. Den Trick benutzen Illegale, seit Moses die feindliche Schlachtordnung in Jericho von Spionen auskundschaften ließ. Du lebst so lange mit dem Bart, bis alle dich nur mit Bart kennen. Am Tag, an dem du verschwinden willst, machst du es wie die russischen Revolutionäre – du rasierst ihn dir ab. Bei einer polizeilichen Gegenüberstellung würde dich selbst deine eigene Frau nicht erkennen. Nehmen wir nur mal an, Samat war einer von diesen Gangsterkapitalisten, von denen man neuerdings so viel hört. Vielleicht war es Ihrem zukünftigen Exschwager in Moskau zu heiß geworden, als er in Qiryat Arba auftauchte, um Ihre Halbschwester zu heiraten. Tschetschenische Banden hatten in diesem Riesenhotel gegenüber dem Kreml Quartier bezogen – das Rossija, wenn ich mich recht entsinne – und kämpften von dort aus gegen die slawische Allianz um die Kontrolle des lukrativen Schutzgeldgeschäfts in der Hauptstadt. Bei den Revierkämpfen der Banden waren Schießereien an der Tagesordnung. Zeugen dieser Schießereien wurden abgeknallt, bevor sie zur Polizei gehen konnten. Leute, die sich morgens auf den Weg zur Arbeit machten, sahen Leichen an Straßenlaternen baumeln. Vielleicht ist Samat Jude, vielleicht ist er ein armenisch-apostolischer Christ. Es spielt im Grunde keine Rolle. Er kauft sich eine Geburtsurkunde, auf der steht, dass seine Mutter Jüdin ist – die kriegt man auf dem Schwarzmarkt nachgeschmissen –, und beantragt die Einwanderung nach Israel. Der Papierkram kann sechs bis acht Monate dauern, und weil ihm das zu lange dauert, lässt Ihr werter Schwager von einem Rabbiner die Heirat mit einer Lubawitscher Frau aus Brooklyn arrangieren. Eine perfekte Tarnung, ein perfekter Schachzug, um von der Bildfläche zu verschwinden, bis die Bandenkriege in Moskau sich wieder gelegt haben. Von seinem schicken sicheren Haus in einer Siedlung im Westjordanland aus hält er Kontakt zu seinen Geschäftspartnern. Er kauft und verkauft Aktien, organisiert den Export russischer Rohstoffe im Austausch gegen japanische Computer oder amerikanische Jeans. Und eines schönen Tages, als sich die Lage in Russland beruhigt hat, beschließt er, aus seinem israelischen Unterschlupf auszubrechen. Damit niemand, weder seine Frau noch die Rabbiner, noch der Staat Israel, erfährt, wo er hinwill oder auf die Idee kommt, ihn dort zu besuchen, rasiert er sich den Bart ab und schnappt sich das Fotoalbum, dann verschwindet er heimlich, still und leise aus dem Land und ist fortan wie vom Erdboden verschluckt.«
    Stellas Lippen öffnen sich, während sie Martin lauschte. »Wieso kennen Sie sich so gut mit Russland und den Bandenkriegen aus?«
    Er zuckte die Achseln. »Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich selbst nicht so genau weiß, woher ich das alles weiß, würden Sie mir dann glauben?«
    »Nein.«
    Martin holte ihren Regenmantel vom Treppengeländer. »Tut mir Leid, dass Sie Ihre Zeit vergeudet haben.«
    »Das war keine Zeitvergeudung«, sagte sie leise. »Ich bin jetzt schlauer als vorher.« Sie nahm den Mantel, schlüpfte hinein und zog ihn eng um sich, als Schutz gegen die Gefühlsausbrüche, die sie bald wie ein kalter Schauer durchlaufen würden. Dann kam ihr ein Gedanke. Sie holte einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche, nahm seine Hand und schrieb eine Brooklyner Telefonnummer darauf.
    »Falls Sie Ihre Meinung ändern …«
    Martin schüttelte den Kopf. »Warten Sie lieber nicht darauf.«
     
    Das schmutzige Geschirr in der Spüle türmte sich inzwischen selbst für Martin zu hoch auf. Mit aufgekrempelten Ärmeln arbeitete er sich gerade durch den ersten Stapel, als das Telefon klingelte. Wie immer ließ er sich reichlich Zeit, bevor er dranging. Seiner Erfahrung nach brachten einem immer nur

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