Die Kalte Zeit
sich die Augen. Dieser Tag würde so enden wie alle. Er würde in sein leeres, kaltes Zimmer kommen, zu spät, um noch was im Fernsehen mitzubekommen, weil alle Filme längst angefangen hatten. Vielleicht schaute er noch in die Tagesthemen rein, trank dabei ein Bier oder zwei. Er würde das Licht ausschalten und vom Sofa aus auf das Wohnhaus gegenüber blicken.
Er dachte an Schäffers Worte. Ich bin sicher, man kann es sich aussuchen.
Zagrosek nahm sein Handy und schrieb: »Das Leben ist zu kurz, um dich so lange nicht zu sehen.«
Vera würde sich wundern. So poetisch war er sonst nie.
19. Dezember
Kleinschmidt sah auf der Beifahrerseite aus dem Fenster, als gäbe es entlang der A 57 Interessantes zu beobachten. Zagrosek saß am Steuer. Früher war immer Kleinschmidt gefahren. Aber Zagrosek hatte sich mit Wiebke Blessing schnell daran gewöhnt, links einzusteigen. Sie fuhr nicht gern.
Er scheuchte einen Wagen mit der Lichthupe auf die rechte Spur.
»Setz doch das Martinshorn rauf, wenn’s dir nicht schnell genug geht«, sagte Kleinschmidt. »Nur würde ich gern lebend ankommen.«
»Hünges hat mittags einen Termin in Düsseldorf. Wir sollten pünktlich da sein.« Zagrosek warf Kleinschmidt einen kurzen Blick zu. »Zurück kannst du fahren. Ist sonst irgendwas?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Schlechte Laune?«
Kleinschmidt sah wieder aus dem Fenster: »Vielleicht war das Ganze eine Schnapsidee. Ich weiß nicht, ob ich das hier noch kann.«
»Du kannst es«, sagte Zagrosek. Was war bloß mit Kleinschmidt los? Gestern noch hatte er euphorisch gewirkt.
Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Zagrosek durchquerte Kaarst, parkte vor dem Rathaus. Da sie sich vorher angemeldet hatten, wurden sie sofort in das Amtszimmer des Bürgermeisters geführt.
Hünges erhob sich von seinem Ledersessel und kam ihnen entgegen, ein kräftiger Mann um die fünfzig im grauen Anzug. Sein Gesicht war sonnengebräunt, nur um die Augen herum war ein blasser Kreis zu erahnen. Vermutlich war er Ski gelaufen.
Sie begrüßten sich. Zagrosek und Kleinschmidt nahmen gegenüber seinem Schreibtisch Platz.
»Ich habe Konrad Verhoeven ja kurz vor seinem Tod noch gesehen«, sagte Hünges. »Und dann diese Tragödie auf dem Nachbarhof.« Er legte beide Hände flach auf die Tischplatte. »Da kommt man nichts ahnend aus dem Urlaub zurück und dann so etwas . . .«
»Sie hatten mit Konrad Verhoeven einen Termin wegen eines Grundstückskaufs?«, fragte Kleinschmidt.
Zagrosek verbarg einen erstaunten Blick. Kleinschmidt übernahm die Befragung. Obwohl er neu in den Fall eingestiegen war. Obwohl er vorhin zugegeben hatte, unsicher zu sein.
»Ja, aus diesem Grund war ich bei ihm.«
»Wann war das?«
»Warten Sie, Frau Schiefner-Wallner hat meinen Terminplan in ihrem Schreibtisch.« Er ging ins Vorzimmer, das heute, am Samstag nicht besetzt war. Der Bürostuhl knarrte, Zagrosek hörte ihn blättern. »Da ist es. Am vierten Dezember, zehn Uhr früh.« Er kam zurück ins Zimmer.
Zagrosek fing einen fragenden Blick von Kleinschmidt auf und nickte. »In der darauf folgenden Nacht ist Verhoeven gestorben.«
»Worum ging es genau bei Ihrem Termin?«, fragte Kleinschmidt den Bürgermeister.
Hünges schob seine Finger ineinander. »Ein Investor will Wohngebiet erschließen. Siebzigtausend Hektar.«
»Warum haben Sie sich eingeschaltet?« Kleinschmidt rückte seine Krawatte zurecht. Hünges schenkte ihm ein Lächeln. »Herr Rohloff, der zuständige Sachbearbeiter, hatte Konrad Verhoeven angerufen und war auf taube Ohren gestoßen. Und bei Verhoevens Flächen handelt es sich sozusagen um das Herzstück des Neubaugebietes. Die anderen Grundstücksbesitzer hatten teilweise schon zugestimmt.«
»Wer sind die anderen?«, fragte Kleinschmidt.
»Die Besitzer der umliegenden Höfe. Nur Walther Martini wollte nicht verkaufen.« Hünges verschränkte die Arme. »Da greift man sich doch an den Kopf, bitte entschuldigen Sie die Formulierung. Martini war um die Siebzig, es gibt keine Erben, die die Landwirtschaft weiterführen wollen. Und dann bei diesem Angebot zu zögern!« Er atmete hörbar aus. »Dieser Selbstmord geht mir sehr nahe. Ob er sich in die Enge getrieben fühlte? Und wir dachten, wir tun dem Mann was Gutes.«
Er stand auf und ging zum Fenster. »Wir haben nun Kontakt zu der Tochter aufgenommen. Und Herbert Graupner hat direkt mit dem Investor verhandelt. Der Mann müsste ausgesorgt haben.«
»Und wie ist Ihr Gespräch mit Konrad Verhoeven
Weitere Kostenlose Bücher