Die Kalte Zeit
Auswahlkommission hatte entschieden und basta. Keiner wollte sich die Blöße geben und seine Enttäuschung zeigen, nicht selber Chef geworden zu sein. Nellessen hatte von einem Kart-Rennen am letzten Wochenende erzählt, Lammert von seinen Erfahrungen und Problemen mit dem Hausbau im Winter. Das hatte sie auf das unerschöpfliche Thema Handwerker gebracht. Eigentlich war es ein ganz netter Abend gewesen. Hinterher, allein mit Lammert vor der Tür, hatte Zagrosek noch ein wenig Überzeugungsarbeit geleistet, Wiebke eine Chance zu geben.
Doch nun war Zwölf Uhr durch und keiner ließ sich blicken.
»Tom, ich weiß nicht, ob das mit dem Umtrunk eine gute Idee war.«
Zagrosek war sich auch nicht mehr sicher. »Hast du Werner eingeladen?«, fragte er.
»Ja, gestern Abend.«
Nellessen tauchte im Türrahmen auf. »Wie, bin ich der Erste?« Er warf einen Blick auf die Torte und stöhnte. »Das geht auf die Hüften.«
»Nun trau dich rein!«
Zagrosek musterte ihn. Nellessen hatte Idealmaße, er trainierte regelmäßig und war weit davon entfernt, sich um seine Hüften sorgen zu müssen. Wenn Zagrosek sich vorstellte, wie Nellessen und Vera miteinander geschlafen hatten, versetzte ihm das jedes Mal einen Stich. Sie passten optisch so gut zusammen, der große, blonde Nellessen und die dunkelhaarige Vera mit ihren femininen Kurven. Warum war die Affäre so schnell zu Ende gewesen? Niemand im Kommissariat schien Details zu kennen, niemand tratschte darüber. Und Vera konnte Zagrosek auch nicht fragen, sonst dachte sie, er wäre eifersüchtig.
Lammert kam. »Entschuldigt. War noch am Telefon.« Er nahm zwei Teller und reichte einen an Nellessen weiter. »Das nenn ich ein Mittagessen.« Er wandte sich Blessing zu. »Selbstgebacken?«
»Nein, Tom hat sie vom Konditor geholt.« Blessing goss sich bereits die dritte Tasse Kaffee ein.
Lammert probierte. »Nicht schlecht. Aber die von Gabi ist besser. Erinnert ihr euch an die Torte zu meinem Geburtstag?«
»Das Himbeersahneding?« Zagrosek zeigte mit den Händen eine etwas übertriebene Höhe an.
»Genau, da sollten noch Schokoladenornamente als Verzierung drauf, aber die hat Tini in die Fingerchen bekommen und danach waren es nur noch Klumpen.« Tini war Lammerts einjährige Tochter und sein ganzer Stolz. »Übrigens, im Kühlschrank im Geschäftszimmer steht eine Flasche Sekt. Soll ich . . .?«
»Ich hab welchen besorgt«, sagte Blessing und zeigte auf Flasche und Gläser auf einem Schränkchen.
»Alkohol im Dienst?« Nellessen verzog den Mund. »Das sind ja ganz neue Sitten.«
Blessing lächelte kühl.
»Nur zum Anstoßen«, meinte Zagrosek. Er entkorkte den Sekt und goss ein.
Kleinschmidt stand auf einmal in der Tür, in der Hand eine Flasche Champagner, die er Blessing übergab. »Hier, so was trinken die Chefs doch, oder?« Er grinste. »Glückwunsch, Wiebke.«
»Danke.« Blessing umarmte Kleinschmidt etwas unbeholfen. »Schön, dass du gekommen bist. Torte?«
»Klar.« Kleinschmidt wirkte bestens gelaunt. Er nahm seinen Teller entgegen und begann zu essen. Zagrosek warf ihm einen fragenden Blick zu, und Kleinschmidt grinste ihn an.
Über den Flur hörte Zagrosek sein Telefon klingeln. Er lief hinüber und nahm ab.
»Hier ist Lars Schäffer. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Worum geht es?« Die Stimmen der anderen schallten laut aus dem Besprechungsraum. Ein lauter Jubel brach aus.
»Der Fall Verhoeven und Hendricks«, sagte Schäffer. »Ich hab neue Informationen, die euch interessieren könnten.«
»Was denn?«
»Nicht am Telefon. Können wir uns treffen, irgendwo auf halber Strecke? Vielleicht bei ‚Hermkes Bur’?«
»Nie gehört.«
»Eine Kneipe. Ist leicht zu finden. Sie nehmen die Abfahrt Neuss-Büttgen und fahren die Rheydter Straße nicht Richtung Büttgen, sondern nach Neuss rein. Es liegt auf der linken Seite, direkt vor der S-Bahn.«
»Okay. Aber nicht sofort.« Zagrosek wollte Wiebke bei ihrem Umtrunk nicht allein lassen.
»Wann denn?«
»Warten Sie noch, ich rufe gleich zurück.«
Zagrosek legte auf und ging zurück zum Besprechungszimmer.
Nur noch Lammert und Nellessen waren da. Blessing stellte die benutzten Sektgläser auf das Tablett.
»Das ist wirklich mal ein erfreulicher Anlass«, sagte Lammert strahlend.
Zagrosek sah ihn erstaunt an. Er hatte Lammert gestern Abend gebeten, Wiebke Blessing eine Chance zu geben, aber dass er nun von ihrer Beförderung als freudigem Anlass sprach, hatte er nicht erwartet. Blessing schien seine
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