Die Kalte Zeit
Erde und den Hall, wenn er die Wand traf, war Gesa schon so gewöhnt, dass sie das Ausbleiben des Geräusches nicht bemerkt hatte. Gesa lief hinunter. Hasko bellte noch immer.
»Mama, wo ist Felix?«
»Keine Ahnung. Hasko! Ruhig! Felix war eben noch hier. Wieso?«
Gesa war schon weitergelaufen, sie sah in die Scheune, rief laut nach ihm. Nichts.
Anna war ihr gefolgt. »Was hast du denn? Lass ihn doch ein bisschen herumstreunen. Möchte bloß wissen, was der Hund hat.«
Gesa versuchte sich zu beruhigen. Wenn das da draußen der Georgier gewesen war, dann hatte er nicht Felix in seine Gewalt gebracht, sondern sprach gerade mit einem der Graupners. Und wenn das nicht der Georgier gewesen war? Wenn er sich wieder auf dem Heuboden der Martinis versteckt hatte, ihr Haus im Blick, und Felix aufgelauert hatte?
Gesa musste ihre Panik vor Anna verbergen. Anna würde vor Sorge umkommen, wenn sie von der Drohung des Georgiers erfuhr. Sie hatten ihr und Felix erzählt, Wolf habe bei der Weihnachtsfeier seiner Kompanie einen über den Durst getrunken und sich halb im Spaß mit einem Schützenbruder geprügelt. Dabei habe Wolf ein blaues Auge abgekriegt. Gesas Hämatom war schon schwieriger zu erklären. Schließlich hatte Gesa eine sehr schonende Version eines Streites zwischen ihr und Wolf erfunden, bei dem Wolf die Hand ausgerutscht war. Sie hatte ihn in Schutz genommen und es auf den Stress und die Trauer wegen Konrads Tod zurückgeführt. Anna hatte Gesa misstrauisch angesehen, dann hatte sie den Kopf geschüttelt, ohne etwas zu sagen.
Gesa lief durch das Hoftor, vorbei an dem bellenden Hasko in seinem Zwinger. Draußen blieb sie stehen, sah nach rechts und links die Straße hinunter. Nichts. Sie wandte sich um. Hinter dem Haus stieg Rauch auf. Sie rannte um das Anwesen herum auf die Rückseite. Ein Feuer! Ein riesiger Haufen Tannen brannte. Wolf hatte die Nordmanntannen und ihre abgeschnittenen Spitzen zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet. Er stand mit dem Rücken zu ihr und blickte in die Flammen, einen Kanister in der Hand. Neben ihm hüpfte Felix aufgeregt herum.
Gesas Herz krampfte sich beim Anblick der Tannen zusammen. Aber Felix war da. Er war in Sicherheit. Ein riesiges Lagerfeuer. Was für ein großartiges Abenteuer.
Gesa drehte sich um und ging. Ein dunkelblauer Wagen passierte die Hofeinfahrt. Gut, dass Anna da war. Gesa fühlte sich nicht in der Lage, Weihnachtsbäume zu verkaufen. Als sie auf den Hof kam, stand da ein Mann in Hut und langem, grauen Mantel. Lars!
Gesa blickte sich zum Hofladen um. Ihre Mutter musste den Wagen gehört haben, aber sie war verschwunden.
Lars lehnte an der Fahrertür und wartete, bis Gesa bei ihm war. Auf dem Beifahrersitz lagen Papiere, auf der Rückbank stand eine Reisetasche.
»Hast du einen Moment Zeit?«, fragte er.
Gesa nickte. Sie spürte seine Unruhe. Ein unangenehmer Druck legte sich auf ihren Magen. Sie betraten das Haus. Gesa nahm Lars mit nach oben in die Küche, er hängte den Mantel über einen Stuhl.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Was? Nein. Oder doch, von mir aus.«
Gesa machte sich an der Maschine zu schaffen. Lars schwieg.
Dann saßen sie sich mit dampfenden Tassen gegenüber.
»Wie läuft es?« Lars räusperte sich.
Gesa zuckte mit den Schultern.
»Hast du mit Wolf über deine Pläne gesprochen?«
»Noch nicht.«
»Willst du Wolf einfach machen lassen, was er will?«
Gesa schwieg. Ich bin die Erbin, dachte sie. Lars hat ja Recht.
»Wolf reißt alles an sich. Er hat dich geschlagen. Und du liebst ihn nicht mehr.«
Was er sagte, stimmte. Und doch hatte er keine Ahnung.
»Warum bist du gekommen?«, fragte sie.
Lars sah sie von der Seite an. »Ich will wissen, was du vorhast.«
»Wie meinst du das?«
»Was wünschst du dir, Gesa? Für dein Leben?«
»Du liebe Güte . . .« Gesa lächelte schwach.
Lars stand auf und umkreiste den Tisch. »Ich fühle eine Kraft in mir, wie ich sie noch nie vorher gefühlt habe. Ich bin fast vierzig, Gesa. Und ich will nicht länger so vor mich hin leben.« Er lächelte verlegen. »Dich wieder zu treffen, hat mich aus der Bahn geworfen. Zuerst dachte ich, vergiss es, du Spinner, es ist dreizehn Jahre her. Aber ich hatte das Gefühl, da ist noch was zwischen uns beiden. Und seit dem Morgen auf dem Heuboden, glaube ich, du empfindest es genauso.« Er stand nun hinter ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Sag doch bitte was.«
»Mir geht es auch so, aber wie . . .«
»Kein ‚Aber’, kein
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