Die Kalte Zeit
zurück gelassen hat. Sie sagt, sie wollten gemeinsam sterben.«
Anna schüttelte voller Verachtung den Kopf. »Den Hof im Stich lassen.«
Gesa sagte nichts. In Annas Welt waren die Menschen für den Hof da, nicht umgekehrt.
Gesa ging zum Schrank und nahm zwei Teetassen heraus. Wieder einmal hatte Anna Gesas gesamte Ordnung durcheinander gebracht. Die restlichen Tassen standen kreuz und quer, die Paare passten nicht zueinander. Gesa zwang sich dazu, den Schrank zu schließen, ohne die Tassen umzustellen. Immer hatte sie auf alles geachtet und trotzdem war ein Unglück nach dem anderen geschehen!
»Juliane zieht nach London«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Für eine Weile zumindest. Sie spielt da in einer Theatergruppe mit.«
»Das wollte sie immer schon, in der Welt rum kommen«, sagte Anna. Es klang nicht unfreundlich. »Aber was wird aus Gisela?«
„Sie zieht in ein Seniorenwohnheim. Der Hof wird verkauft, ein Investor baut Haus und Scheune um. Die Gebäude werden in mehrere Wohneinheiten unterteilt. Solche Objekte sind sehr begehrt, sagt Juliane. Wohnen nach modernstem Standard, aber mit Bauernhof-Atmosphäre.«
Anna ging hinaus und kam mit einer Dose Weihnachtsplätzchen zurück. »Du musst Wolf welche mitbringen, wenn du wieder hinfährst.« Bisher vermied Anna das Wort Gefängnis.
»Ich glaube nicht, dass ich ihm was zu essen bringen darf«, sagte Gesa.
Anna nahm den Teefilter heraus. »Diese Kommissare können mir allerhand erzählen, aber niemals hat Wolf Konrad niedergeschlagen. Ich wette, sie waren alle ganz konfus, so eingeschlossen in den Flammen. Wahrscheinlich hat Wolf Konrad nicht mal gesehen.«
»Mama, an Wolfs Taschenlampe waren Spuren . . .«
»Ach, das ist doch . . . Die glauben, die können alles beweisen mit ihren DNA-Auswertungen oder wie sie das nennen.«
Gesa sah den engen, kahlen Raum in der Untersuchungshaft vor sich, der für Besuche von Angehörigen genutzt wurde. Ein Wachmann hatte an der Tür gesessen und jedes Wort mitgehört, das sie redeten. Aber sie hatten nicht viel gesagt. Gesa hatte Wolf angesehen, wie dringend er einen Schluck gebraucht hätte. Seine Augen waren ruhelos durch den Raum geirrt. Sie hatten stumm aneinander vorbei gesehen, und Gesa hatte Wolfs Hand festgehalten.
Später, wenn ein Urteil gefällt worden war, würde Gesa Wolf fragen, warum er das getan hatte. Später.
Anna nahm die Vanillekipferl einzeln heraus und legte sie in eine Schale. Eine dicke Schicht Puderzucker verdeckte die verbrannte Oberfläche. Anna nahm ein Kipferl und biss hinein. Der Zucker staubte hoch.
Gesas Augen füllten sich mit Tränen. Anna setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. Einen Moment lang saßen sie schweigend da, das Kipferl krachte zwischen Annas Zähnen.
Gesa schob Annas Arm zur Seite, stand auf und ging auf den Hof. Sie suchte eine der übrig gebliebenen Coloradotannen aus und trug sie nach oben ins Wohnzimmer. Anna brachte einen Ständer und die Kiste mit dem Baumschmuck aus dem Keller. Sie schmückten wortlos, mischten die Kugeln, rot, golden, silbern, lila, kunterbunt, so wie Felix es sich immer wünschte. Ganz unten in der Schachtel lag seit Jahren eine flache Packung. Gesa riss sie auf und warf zarte silberne Lamettafäden auf jeden Ast. Konrad hatte Lametta gehasst.
»Mama, Oma! Was macht ihr?«, klang Felix Stimme über den Flur. Er öffnete die Tür und stand mit offenem Mund vor dem bunten Glitzerbaum.
»Oh. Der ist schön! Darf ich den Engel oben drauf machen? Bitte, Oma!«
»Ja, diesmal darfst du.«
Sie aßen Fertigpizza, die Gesa in der Tiefkühltruhe gefunden hatte. Anschließend packte Felix seine Geschenke aus, und Gesa überreichte Anna die Tischsets aus dem Geschenkeladen in Büttgen. Anna schenkte ihr eine Designer-Pfeffermühle und ein Eau de Toilette. Felix durfte sich eine Sendung im Fernsehen aussuchen. Gesa und Anna saßen mit ihm auf dem Sofa. Gesa betrachtete die Lämpchen der Lichterkette im Baum.
»Ich muss noch mal weg«, sagte sie mit einem Blick zu Anna.
»Was? Jetzt? Wohin denn?«
»Nach Düsseldorf.«
»Du willst ins Krankenhaus.«
Gesa nickte.
Gesa lief über den Stationsflur und las die Zimmernummern auf den Schildern. In der Zweiundfünfzig sei er, hatte eine Krankenschwester ihr gesagt. Gesa steckte die Hände in die Manteltasche. Es war Heiligabend und sie hatte nicht mal ein kleines Geschenk für Lars.
Sie klopfte an die Zimmertür und trat ein. Lars lag am Fenster, es war dunkel, nur eine Leselampe am Bett
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