Die Kameliendame
nicht, wieso, aber ich glaube ja. Jetzt geh. Ich bin todmüde.'
Einige Sekunden noch lagen wir einander in den Armen. Dann ging ich.
Die Straßen waren menschenleer, die große Stadt schlief noch. Eine angenehme Frische lag über den Straßen, die
wenige Stunden später vom Lärm der Menschen erfüllt sein würden. Es kam mir vor, als gehöre diese schlafende Stadt mir. Ich suchte in meinem Gedächtnis nach Namen von Menschen, die ich bisher um ihr Glück beneidet hatte. Ich fand keinen, den ich glücklicher wußte als mich.
Von einem jungen, ehrbaren Mädchen geliebt zu werden, ihr zum erstenmal den köstlichen Zauber der Liebe zu enthüllen, sicher, das ist eine große Beglückung; aber es ist die natürlichste Sache der Welt. Ein Herz zu erobern, das Werben nicht kennt, ist ebenso, als würde man in eine offene, unverteidigte Stadt eindringen. Gewiß, Erziehung, Pflichtgefühl und Familie sind starke Wächter, aber sie sind doch nicht wachsam genug, um einem Mädchen von sechzehn Jahren seine Unschuld zu bewahren, wenn zum erstenmal die Stimme des geliebten Mannes Liebessehnsucht in ihr erweckt, die um so glühender ist, je reiner sie scheint. Je mehr das junge Mädchen an das Gute glaubt, um so leichter verliert es sich, wenn nicht an den Geliebten, so doch an die Liebe. Denn weil es nicht mißtrauisch ist, ist es widerstandslos. Und von ihm geliebt zu werden, ist ein Triumph, den jeder Mann mit fünfundzwanzig Jahren haben kann, wenn er will. Das ist nur zu wahr, denn weshalb sonst würde man die jungen Mädchen so überwachen und beschützen? Klostermauern sind nicht hoch genug, wachsame Mütter nicht streng genug, und das Pflichtgefühl ist nicht stark genug, um die reizenden Vögelchen sicher im Käfig einzusperren. Man gibt sich ja nicht einmal die Mühe, ihn mit Blumen zu verschönern. Sie müssen also nach der Welt verlangen, die man ihnen verschließt, müssen glauben, daß sie verführerisch sei, müssen der ersten Stimme lauschen, die ihnen durch die Gitterstäbe Geheimnisvolles zuflüstert, die Hand segnen, die als erste ein wenig den Zauberschleier lüftet. Aber von einer Kurtisane wirklich geliebt zu werden, das ist ein viel schwerer erkämpfter Sieg. Bei ihr hat der Körper die Seele verbraucht, die Sinne haben das Herz verbrannt, die Begierde hat die wahren Gefühle zurückgedrängt. Die Worte, die man ihnen sagt, wissen sie im voraus, die Mittel, die man anwendet, sind ihnen lange bekannt, und selbst die Liebe, die sie einflößen, haben sie verkauft. Die Liebe ist ihnen Beruf und kein Emporgehobenwerden. Sie sind durch ihre Berechnung besser behütet, als es eine Jungfrau durch die Mutter und die Klostermauern sein kann. Für die Liebe ohne Entgelt haben sie das Wort ,Laune' erfunden. Dann und wann erlauben sie sich diese Launen, zum Ausgleich, zu ihrer Entschuldigung oder zum Trost. Man könnte sie den Wucherern vergleichen, die tausend Menschen übervorteilen und die dann glauben, alles wiedergutzumachen, wenn sie einmal einigen armen Teufeln, die vor Hunger sterben, zwanzig Francs schenken, ohne Zinsen oder eine Empfangsbescheinigung zu verlangen. Wenn Gott eine Kurtisane wahrhaft lieben läßt, so scheint diese Liebe zunächst eine Gnade. Aber fast immer wird diese Liebe dann eine Sühne für sie. Es gibt keine Absolution ohne Buße. Wenn ein Wesen, das eine ganze Vergangenheit zu bereuen hat, sich plötzlich von einer tiefen, echten, unwiderstehlichen Liebe ergriffen fühlt, deren es sich niemals fähig glaubte, wenn es diese Liebe gestanden hat, wie wird es dann von dem geliebten Manne beherrscht! Wie stark fühlt er sich, wenn er grausam zu ihr sagt: Für Liebe gibst du nicht mehr, als du für Geld gegeben hast!
Dann wissen sie nicht, wie sie ihre Liebe beweisen sollen! Es ergeht ihnen ähnlich wie jenem Kinde, dem es Vergnügen bereitete, auf dem Felde ,Hilfe, Hilfe' zu rufen, um die Arbeiter zum besten zu halten. Da wurde es eines Tages von einem Bären angefallen. Niemand eilte zu Hilfe, weil keiner glaubte, daß diesmal sein Rufen Not bedeutete. So geht es auch diesen unglücklichen Mädchen, wenn sie wirklich lieben. Sie haben so oft geheuchelt, daß man ihnen nicht mehr glauben will, und nicht nur ihre Gewissensbisse zehren an ihnen, sondern auch ihre Liebe.
Daher dann diese große Hingabe, diese plötzliche Sittenstrenge, von denen einige ein Beispiel gegeben haben. Aber wenn der Mann, der Anlaß dieser erlösenden Liebe ist, eine großzügige Seele hat und sich beschenken läßt,
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