Die Kameliendame
Zeit sich der Stunde näherte, in der ich auf eine Antwort hoffen konnte, um so mehr bereute ich, den Brief geschrieben zu haben.
Es schlug zehn, elf, zwölf.
Um zwölf war ich fast entschlossen, zu ihr zu gehen, als sei nichts geschehen. Aber ich wußte nicht, wie ich den eisernen Ring, der mich umklammerte, zerbrechen sollte. Dann dachte ich - abergläubisch wie Menschen, die warten, nun einmal sind -, daß ich, wenn ich ausginge, bei meiner Rückkehr sicher eine Antwort vorfinden würde. Nachrichten, auf die man ungeduldig wartet, kommen immer dann, wenn man nicht zu Hause ist.
Unter dem Vorwand, essen zu gehen, verließ ich das Haus. Statt wie gewöhnlich im Café Foy an der Ecke des Boulevards einzukehren, begab ich mich ins Palais Royal. Um dorthin zu gelangen, mußte ich durch die Rue d'Antin. Jedesmal, wenn ich von weitem eine Frau sah, glaubte ich, es sei Nanine, die mir die Antwort bringe. Ich ging durch die Rue d'Antin, ohne einem Boten zu begegnen. Bei Very im Palais Royal servierte der Kellner mir das, was er für gut hielt. Ich rührte nichts an.
Unwillkürlich sah ich beständig auf die Uhr. Ich begab michnach Hause zurück, in der festen Überzeugung, einen Brief von Marguerite vorzufinden. Beim Portier hatte man nichts abgegeben. Jetzt setzte ich alle meine Hoffnungen auf meinen Diener. Er hatte niemanden gesehen, seit ich fortgegangen war.
Wenn Marguerite mir antworten wollte, dann hätte sie es längst getan. Ich bedauerte meinen Brief heftig. Ich konnte mich ja auch getäuscht haben und hätte ihr dann nur einen Anlaß gegeben, ungehalten zu sein. Wenn ich nicht, wie verabredet, zu ihr gekommen wäre, hätte sie Schritte unternommen, um mich über die Gründe meines Ausbleibens zu befragen. Dann hätte ich ihr noch immer Vorwürfe machen können und sie hätte sich rechtfertigen müssen. Ich wußte, daß ich jede Erklärung geglaubt hätte und alles gutheißen würde, nur um sie wiederzusehen.
Ich verstieg mich sogar so weit, zu glauben, sie käme selber zu mir. Aber die Stunden verstrichen, und sie kam nicht. Ja, Marguerite war wirklich nicht wie alle anderen Frauen. Nur sehr wenige antworteten auf einen derartigen Brief nicht eine Silbe.
Um fünf Uhr begab ich mich in die Champs-Elysées. Wenn ich ihr begegnen sollte, dachte ich, werde ich eine gleichgültige Miene aufsetzen, und sie wird überzeugt sein, daß ich nicht mehr an sie denke.
An der Ecke der Rue Royal fuhr ihr Wagen an mir vorüber. Die Begegnung kam so unerwartet, daß ich erblaßte. Ich weiß nicht, ob sie meine Gemütsbewegung bemerkte. Ich selber war derart verwirrt, daß ich nur ihren Wagen sah. Ich ging nicht länger auf den Champs-Elysées spazieren, sondern studierte die Theaterzettel, denn mir war ein Gedanke gekommen, wo ich sie sehen könnte.
Im Palais-Royal war eine Premiere. Marguerite würde sicher dort sein. Um sieben Uhr war ich im Theater. Alle Logen füllten sich, aber Marguerite kam nicht. Also verließ ich das Palais-Royal und suchte sie in anderen Theatern, im Vaudeville, im Varieté, in der Opéra-Comique. Nirgends fand ich sie.
Entweder hatte mein Brief sie so verletzt, daß sie nicht ins Theater gehen konnte, oder aber wollte sie einer Begegnung und somit einer Erklärung ausweichen. Soweit war ich mit meinen eitlen Gedanken gekommen, als ich auf dem Boulevard Gaston traf, der mich fragte, wo ich herkäme.
,Aus dem Palais-Royal.'
,Und ich aus der Opera', sagte er, ,ich glaubte, Sie dort zu
treffen.' ,Warum?'
,Weil Marguerite dort war.' ,Ach, sie war dort?' ,Ja.'
,Allein?'
,Nein, mit einer Freundin.' ,Sonst war niemand bei ihr?'
,Der Graf von G... kam für einen Augenblick in ihre Loge. Aber fortgegangen ist sie mit dem Herzog. Ich glaubte jeden Augenblick, Sie würden kommen. Der Platz neben ihr war den ganzen Abend frei. Ich war überzeugt, Sie hätten ihn belegt.'
,Aber warum soll ich dorthin gehen, wo Marguerite hingeht?'
,Mein Gott, weil Sie ihr Geliebter sind!' ,Wer hat Ihnen das gesagt?'
,Prudence, die ich gestern traf. Ich gratuliere Ihnen, mein Lieber. Sie ist eine reizende Geliebte, die nicht jeder bekommt, der sie gerne möchte. Halten Sie sie fest, sie macht Ihnen Ehre.'
Diese wenigen Worte Gastons zeigten mir, wie lächerlich meine Empfindlichkeit war. Wenn ich ihm am Vorabend begegnet wäre, und er hätte das zu mir gesagt, dann hätte ich diesen dummen Brief heute morgen sicher nicht geschrieben.
Ich überlegte, ob ich nicht zu Prudence gehen und sie zu Marguerite schicken sollte mit der
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