Die Kameliendame
Unvorhergesehenes geschehen sein, was sie von mir fernhielt. Je länger ich darüber nachdachte, um so überzeugter war ich, daß nur ein Unglück geschehen sein könne. Oh, männliche Eitelkeit, du zeigst dich in allen Formen!
Es schlug ein Uhr. Ich wollte noch eine Stunde warten. Wenn Marguerite um zwei Uhr nicht zu Hause war, wollte ich nach Paris gehen. Ich suchte nach einem Buch, um nicht mehr denken zu müssen. ,Manon Lescaut' lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Einige Seiten sahen aus, als seien sie mit Tränen benetzt worden. Ich blätterte eine Weile darin und schloß es wieder. Sein Inhalt erschien mir in meinen Ängsten ohne jeden Sinn.
Langsam verstrich die Stunde. Der Himmel hatte sich inzwischen bedeckt. Herbstregen schlug gegen die Fenster. Das leere Bett kam mir wie ein Grab vor. Ich fürchtete mich. Ich öffnete die Türe. Aber man hörte nur das Brausen des Windes in den Bäumen. Nicht ein einziger Wagen fuhr auf der Straße. Die Kirchturmuhr schlug traurig die halbe Stunde. Jetzt hatte ich sogar Furcht, ein Unbefugter könne ins Haus eindringen. Mir war zumute, als würden diese Stunde und dieses Wetter das Unglück begünstigen. Es schlug zwei Uhr. Ich wartete noch ein wenig. Nur das gleichförmige, eintönige Ticken der Uhr war zu hören.
Ich verließ das Zimmer. Jeder Gegenstand weckte traurige Erinnerungen in mir und verstärkte die Leere in meinem Herzen.
Im Nebenzimmer fand ich Nanine. Sie war über ihrer Arbeit eingeschlafen. Als ich die Türe öffnete, erwachte sie und fragte, ob ihre Herrin zurück sei.
,Nein, aber wenn sie kommt, sage ihr, die Sorge um sie hätte mich nach Paris getrieben, ohne daß ich ihre Rückkehr hier abgewartet hätte.' ,Um diese Zeit nach Paris?' ,Ja.'
,Aber Sie werden keinen Wagen finden« ,Ich gehe zu Fuß.' ,Aber es regnet ja!' ,Was macht das?'
,Die gnädige Frau wird bald zurückkommen, und wenn sie heute doch nicht mehr kommen sollte, dann ist morgen am Tage immer noch Zeit, nachzuforschen, was sie aufgehalten hat. Sie könnten unterwegs ermordet werden!' ,Diese Gefahr besteht nicht, meine liebe Nanine.' Das gute Mädchen holte mir einen Mantel, legte ihn mir um und bot sich an, Frau Arnould zu wecken und sich bei ihr zu erkundigen, ob sie einen Wagen besorgen könne. Ich wollte das nicht, denn ich fürchtete, durch diesen, wahrscheinlich vergeblichen Versuch zu viel Zeit zu verlieren. Inzwischen konnte ich schon den halben Weg zurückgelegt haben. Außerdem wollte ich frische Luft atmen und müde werden, um meiner Erregung Herr zu werden.
Ich nahm den Schlüssel der Rue d'Antin zu mir, sagte Nanine, die mich bis ans Gartentor begleitet hatte, adieu und begann meine Wanderung. Zuerst lief ich schnell, da aber der Boden feucht war, wurde ich doppelt so rasch müde. Nach einer halben Stunde mußte ich rasten. Ich war schweißgebadet. Nachdem ich Atem geschöpft hatte, ging ich weiter. Es war so finster, daß ich befürchtete, jeden Augenblick gegen einen Baum zu laufen. Plötzlich sah ich sie dicht vor mir wie Gespenster, die auf mich zueilten.
Ein oder zwei Mietskutschen begegnete ich, die jedesmal bald im Dunkel untertauchten.
Ein geschlossener Wagen fuhr in raschem Trab in Richtung Bougival. In dem Augenblick, als er an mir vorbeifuhr, hatte ich die Hoffnung, Marguerite würde darin sitzen. Ich blieb stehen und rief: ,Marguerite! Marguerite!' Aber niemand antwortete mir, und der Wagen fuhr vorüber. Ich sah ihm nach und ging dann weiter. Zwei Stunden brauchte ich insgesamt bis zur Schranke am Etoile. Der Anblick von Paris gab mir wieder Kraft. Ich eilte die lange Allee entlang, über die ich schon so oft in früheren Zeiten gegangen war. In jener Nacht begegnete mir niemand. Die Allee war ausgestorben wie die Promenade einer toten Stadt. Der Tag graute.
Als ich die Rue d'Antin erreichte, rührte sich die Stadt schon ein wenig, ehe sie ganz aus ihrem Schlaf erwachte. Auf der Kirchturmuhr von Saint-Roche schlug es fünf Uhr, als ich Marguerites Haus betrat.
Ich rief dem Portier meinen Namen zu. Er hatte oft genug Zwanzig-Francs-Stücke von mir erhalten, um zu wissen, daß ich ein Recht hatte, um fünf Uhr morgens zu Fräulein Gautier zu gehen.
Ich konnte also ungehindert die Treppe hinaufgelangen. Ich hätte ihn zwar fragen können, ob Fräulein Gautier zu Hause sei. Aber er hätte mir mit ,Nein' antworten können. Ich wollte lieber zwei Minuten länger Ungewißheit haben, denn solange ich zweifelte, hoffte ich noch. Ich horchte an der Türe, ob ich ein Geräusch
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