Die Kammer
werden müssen. Aber was haben wir zu verlieren?«
»Wirst du Keyes anrufen und es ihm sagen?«
»Wenn ich Zeit dazu habe. Im Augenblick sind mir seine Gefühle ziemlich gleichgültig.«
»Dann sind sie es mir auch. Zum Teufel mit ihm. Wen können wir sonst noch attackieren?«
»Die Liste ist ziemlich kurz.«
Sam sprang auf und begann, mit gemessenen Schritten am Tisch entlangzuwandern. Der Raum war fünf Meter vierzig lang. Er wanderte um den Tisch herum, hinter Adam vorbei und, seine Schritte zählend, an den vier Wänden entlang. Dann blieb er stehen und lehnte sich an ein Bücherregal.
Adam war mit seinen Notizen fertig und musterte ihn eingehend. »Lee möchte wissen, ob sie dich besuchen darf«, sagte er.
Sam starrte ihn an, dann kehrte er langsam zu seinem Stuhl an der anderen Seite des Tisches zurück. »Will sie das denn?«
»Ich glaube schon.«
»Ich muß darüber nachdenken.«
»Dann beeil dich.«
»Wie geht es ihr?«
»Recht gut, glaube ich. Sie hat gesagt, daß sie dich liebt und für dich betet und daß sie oft an dich denkt.«
»Wissen die Leute in Memphis, daß sie meine Tochter ist?«
»Ich glaube nicht. Bisher hat es noch nicht in der Zeitung gestanden.«
»Ich hoffe, das bleibt auch so.«
»Sie und ich waren am Samstag in Clanton.«
Sam warf ihm einen traurigen Blick zu, dann schaute er zur Decke. »Was habt ihr gesehen?« fragte er.
»Eine Menge Dinge. Sie hat mir das Grab meiner Großmutter gezeigt und die Stelle, an der die anderen Cayhalls liegen.«
»Sie wollte nicht bei den Cayhalls begraben werden. Hat Lee dir das erzählt?«
»Ja. Lee hat gefragt, wo du begraben werden möchtest.«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Okay. Aber laß es mich wissen, wenn du dich entschieden hast. Wir sind durch die Stadt gewandert, und sie hat mir das Haus gezeigt, in dem wir damals wohnten. Wir gingen zum Platz und saßen auf dem Rasen vor dem Gerichtsgebäude. In der Stadt herrschte ziemlicher Betrieb, vor allem um den Platz herum.«
»Wir haben uns immer das Feuerwerk vom Friedhof aus angesehen.«
»Davon hat Lee mir erzählt. Wir haben in The Tea Shoppe zu Mittag gegessen, und dann sind wir aufs Land hinausgefahren. Sie brachte mich zu dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat.«
»Steht es noch?«
»Ja, aber es ist aufgegeben worden. Es ist ziemlich heruntergekommen, und das Unkraut hat alles überwuchert. Wir sind ein bißchen herumgewandert. Sie hat mir eine Menge Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Eine Menge über Eddie.«
»Hat sie gute Erinnerungen?«
»Eigentlich nicht.«
Sam verschränkte die Arme und schaute auf den Tisch. Eine ganze Minute verging ohne ein Wort. Schließlich fragte Sam: »Hat sie dir von Eddies afrikanischem Freund Quince Lincoln erzählt?«
Adam nickte langsam, und ihre Blicke trafen sich. »Ja, das hat sie.«
»Und von seinem Vater Joe?«
»Sie hat mir die Geschichte erzählt.«
»Hast du ihr geglaubt?«
»Ja. Weshalb sollte ich ihr nicht glauben?«
»Sie ist wahr. Es ist alles wahr.«
»Daran habe ich nicht gezweifelt.«
»Was hast du empfunden, als sie dir die Geschichte erzählte? Ich meine, wie hast du darauf reagiert?«
»Ich habe dich gehaßt.«
»Und was empfindest du jetzt?«
»Etwas anderes.«
Sam stand langsam auf und ging ans Ende des Tisches, wo er stehenblieb und Adam den Rücken zukehrte. »Das ist jetzt vierzig Jahre her«, murmelte er fast unhörbar.
»Ich bin nicht hergekommen, um darüber zu reden«, sagte Adam, der sich schon jetzt schuldig fühlte.
Sam drehte sich um und lehnte sich wieder an das Bücherregal. Er verschränkte die Arme und starrte auf die Wand. »Ich habe mir Tausende von Malen gewünscht, ich hätte es nicht getan.«
»Ich habe Lee versprochen, ich würde es nicht zur Sprache bringen, Sam. Es tut mir leid.«
»Joe Lincoln war ein guter Mann. Ich habe mich oft gefragt, was aus Ruby und Quince und den anderen Kindern geworden ist.«
»Vergiß es, Sam. Laß uns über etwas anderes reden.«
»Ich hoffe, sie sind glücklich, wenn ich tot bin.«
30
A ls Adam die Sicherheitskontrolle am Haupttor passierte, winkte ihm der Wachhabende zu, als wäre er inzwischen ein Stammgast. Er erwiderte das Winken, während er die Fahrt verlangsamte und auf einen Knopf drückte, um die KofferraumVerriegelung zu lösen. Beim Verlassen des Geländes brauchten Besucher keine Papiere auszufüllen, es wurde nur ein kurzer Blick in den Kofferraum geworfen, um sicherzustellen, daß sich nicht etwa ein Gefangener
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