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Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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einziger Besucher am Sonntag war wieder jemand, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er rieb sich die Handgelenke, nachdem ihm die Handschellen abgenommen worden waren, und ließ sich dem grauhaarigen Mann gegenüber nieder, der da mit fröhlichem Gesicht und einem freundlichen Lächeln auf der anderen Seite des Gitters saß.
    »Mr. Cayhall, ich heiße Ralph Griffin, und ich bin der Pastor hier in Parchman. Ich bin neu hier, deshalb sind wir uns bisher noch nicht begegnet.«
    Sam nickte und sagte: »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
    »Ganz meinerseits. Ich bin sicher, Sie kannten meinen Vorgänger.«
    »Ach ja, Reverend Rucker. Wo ist er jetzt?«
    »Im Ruhestand.«
    »Gut. Ich konnte ihn nicht ausstehen. Ich glaube nicht, daß er in den Himmel kommt.«
    »Ja, ich habe gehört, daß er nicht sonderlich beliebt war.«
    »Beliebt? Er wurde von allen hier verabscheut. Irgendwie haben wir ihm nie getraut. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil er für die Todesstrafe war. Können Sie sich das vorstellen? Er war von Gott dazu berufen worden, uns beizustehen, und dennoch war er der Meinung, daß wir sterben sollten. Sagte, es stünde in der Bibel. Sie wissen schon, die Augeum-AugeGeschichte.«
    »Ich glaube, das hab' ich schon mal irgendwo gehört.«
    »Bestimmt haben Sie das. Was für eine Art Pastor sind Sie? Welche Konfession?«
    »Ich wurde als Baptist ordiniert, aber jetzt bin ich gewissermaßen konfessionslos. Ich könnte mir sowieso vorstellen, daß der Herr diese ganze Aufspaltung der Kirche in lauter Untergrüppchen längst satt hat.«
    »Mich hat er auch satt.«
    »Wie das?«
    »Sie kennen doch Randy Dupree, auch ein Insasse hier. Er sitzt im selben Abschnitt wie ich, nur ein paar Zellen weiter. Vergewaltigung und Mord.«
    »Ja. Ich habe seine Akte gelesen. Er war früher Prediger.«
    »Wir nennen ihn Preacher Boy, und ihm ist vor kurzem die geistige Gabe der Traumdeutung zuteil geworden. Außerdem singt und heilt er. Wenn man es ihm erlaubte, würde er vermutlich ein Gottesurteil suchen. Schlangen in die Hand nehmen oder so, Sie wissen schon, Markus-Evangelium, Kapitel sechzehn, Vers achtzehn. Also, jedenfalls hat er gerade seinen langen Traum ausgeträumt, über einen Monat hatte der sich hingezogen, wie eine von diesen Mini-Serien, und schließlich ist ihm offenbart worden, daß ich tatsächlich hingerichtet werde und daß Gott darauf wartet, daß ich reinen Tisch mache.«
    »Das wäre gar kein schlechter Gedanke. Alles ins reine zu bringen.«
    »Weshalb die Eile? Ich habe noch zehn Tage.«
    »Sie glauben also an Gott?«
    »Ja, das tue ich. Sind Sie für die Todesstrafe?«
    »Nein, das bin ich nicht.«
    Sam musterte ihn eine Weile, dann sagte er: »Ist das Ihr Ernst?«
    »Töten ist ein Unrecht, Mr. Cayhall. Wenn Sie Ihr Verbrechen tatsächlich begangen haben, dann war es ein Unrecht, daß Sie getötet haben. Aber es ist auch ein Unrecht, wenn der Staat Sie tötet.«
    »Halleluja, Bruder.«
    »Wenn Sie mich fragen, wollte Jesus nicht, daß wir zur Strafe töten. Das hat er nicht gelehrt. Er hat Liebe und Vergebung gelehrt.«
    »Genau so verstehe ich die Bibel. Wie in aller Welt haben Sie diesen Job hier bekommen?«
    »Ein Vetter von mir ist im Senat.«
    Sam lächelte über diese Antwort und kicherte vor sich hin.
    »Sie werden sich nicht lange halten. Sie sind zu ehrlich.«
    »Nein. Mein Vetter ist Vorsitzender des Gefängnisausschusses und ziemlich einflußreich.«
    »Dann sollten Sie beten, daß er wiedergewählt wird.«
    »Das tue ich jeden Morgen. Ich wollte nur hereinschauen und mich vorstellen. Ich würde mich gern in den nächsten Tagen mit Ihnen unterhalten. Mit Ihnen beten, wenn Sie wollen. Ich habe noch nie eine Hinrichtung mitgemacht.«
    »Ich auch nicht.«
    »Haben Sie Angst?«
    »Ich bin ein alter Mann, Reverend. In ein paar Monaten werde ich siebzig, wenn ich es noch erlebe. Manchmal ist der Gedanke ans Sterben ganz erfreulich. Es wird eine Erlösung sein, diesen elenden Ort verlassen zu können.«
    »Aber Sie kämpfen nach wie vor.«
    »Sicher, aber manchmal weiß ich nicht, warum. Es ist, als stürbe man langsam an Krebs. Es geht allmählich bergab, und man wird immer schwächer. Jeden Tag stirbt man ein wenig, und man kommt an den Punkt, an dem der Tod willkommen ist. Aber im Grunde will niemand sterben. Nicht einmal ich.«
    »Ich habe über Ihren Enkel gelesen. Das muß eine Wohltat für Sie sein. Ich weiß, daß Sie stolz auf ihn sind.«
    Sam lächelte und schaute zu Boden.
    »Ich bin

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