Die Kammer
Sprache war wortreich und voller Wiederholungen, blumig und voll von Ausdrücken, die ein schlichter Laie nie in den Mund nahm. Sam kannte sich im Juristenjargon aus und konnte seine Sache auch ohne die Hilfe eines Anwalts vertreten.
Am Ende des Flurs flog eine Tür auf und schloß sich dann wieder. Schwere Tritte näherten sich, und Packer erschien. »Dein Anwalt ist da, Sam«, sagte er und löste die Handschellen von seinem Gürtel.
Sam stand auf und zog seine Boxershorts hoch. »Wie spät ist es?«
»Kurz nach halb zehn. Spielt das eine Rolle?«
»Um zehn sollte ich meine Draußenstunde bekommen.«
»Wollen Sie nach draußen, oder wollen Sie Ihren Anwalt sehen?«
Sam dachte darüber nach, während er seinen roten Overall überzog und seine Füße in die Plastiksandalen schob. Das Anziehen ging schnell im Trakt. »Bekomme ich sie später?«
»Das findet sich.«
»Ich lege Wert auf meine Draußenstunde.«
»Ich weiß, Sam. Gehen wir.«
»Sie ist sehr wichtig für mich.«
»Ich weiß, Sam. Sie ist für jeden von euch sehr wichtig. Wir werden versuchen, sie auf später zu verlegen, okay?«
Sam kämmte sich sorgfältig, dann spülte er die Hände mit kaltem Wasser ab. Packer wartete geduldig. Er wollte etwas zu J. B. Guilitt sagen, irgend etwas über seine Laune heute morgen, aber Guilitt schlief schon wieder. Die meisten von ihnen schliefen. Der durchschnittliche Insasse einer Todeszelle hielt bis zum Frühstück und danach noch ein oder zwei Stunden Fernsehen durch, bevor er sein Vormittagsschläfchen machte. Obwohl seine Studie keinesfalls wissenschaftlich war, schätzte Packer, daß sie täglich fünfzehn bis sechzehn Stunden schliefen. Und sie konnten immer schlafen - in der Hitze, in der Kälte und inmitten des Lärms von lauten Fernsehern und Radios.
Der Lärm war wesentlich schwächer heute morgen. Die Ventilatoren summten und winselten, aber es gab kein Gebrüll von Zelle zu Zelle.
Sam trat an die Gitterstäbe, drehte Packer den Rücken zu und streckte beide Hände durch die schmale Öffnung in der Tür. Packer legte ihm die Handschellen an, und Sam ging zu seinem Bett und holte das Dokument. Packer nickte einem Wärter am Ende des Flurs zu, und Sams Tür öffnete sich selbsttätig. Dann glitt sie wieder zu.
Fußketten waren Ermessenssache in solchen Fällen, und bei einem jüngeren Gefangenen, vielleicht einem, der zur Aufsässigkeit neigte und kräftiger war, hätte Packer sie wahrscheinlich verwendet. Aber hier ging es nur um Sam. Er war ein alter Mann. Wie weit konnte er rennen? Wieviel Schaden konnte er mit seinen Füßen anrichten?
Packer legte sanft die Hand auf Sams mageren Bizeps und führte ihn den Flur entlang. Sie blieben vor der Abteilungstür, einer Reihe aus weiteren Gitterstäben, stehen, warteten darauf, daß sie sich öffnete, und verließen den Abschnitt A. Ein weiterer Wärter hielt sich hinter ihnen, als sie eine Eisentür erreichten, die Packer mit einem Schlüssel an seinem Gürtel aufschloß. Sie gingen hindurch, und da war Adam, der allein auf der anderen Seite des grünen Metallgitters saß.
Packer nahm Sam die Handschellen ab und verließ den Raum.
Das erstemal las Adam langsam. Beim zweiten Durchlesen machte er sich ein paar Notizen und amüsierte sich über einige der Ausdrücke. Er hatte von studierten Juristen schon schlechtere Texte gesehen. Aber auch viel bessere. Sam litt unter derselben Krankheit wie die meisten Jurastudenten im ersten Semester. Er benutzte sechs Wörter, wo eines ausgereicht hätte. Sein Latein war grauenhaf. Ganze Absätze waren überflüssig. Aber aufs Ganze gesehen nicht schlecht für einen Nicht-Juristen.
Das ursprünglich zweiseitige Dokument war auf vier Seiten angeschwollen, sauber getippt, mit ordentlichen Rändern und nur zwei Tippfehlern und einem falsch geschriebenen Wort.
»Du hast mächtig gute Arbeit geleistet«, sagte Adam, als er das Dokument auf die Schreibplatte legte. Sam paffte an einer Zigarette und schaute ihn durch die Öffnung hindurch an. »Es ist im Prinzip dieselbe Vereinbarung, die ich dir gestern gegeben habe.«
»Sie ist im Prinzip grundverschieden davon«, korrigierte ihn Sam.
Adam schaute auf seine Notizen, dann sagte er: »Offensichtlich sind es fünf Punkte, auf die du besonderen Wert legst. Der Gouverneur, Bücher, Filme, Entlassung und wer als Zeuge der Hinrichtung beiwohnen soll.«
»Ich lege auf eine Menge Dinge Wert. Das sind nur die, die nicht zur Diskussion stehen.«
»Ich habe dir gestern
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