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Die Kammer

Titel: Die Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Gitterstäbe heran. »Morgen, Sam«, sagte er leise.
    »Morgen«, erwiderte Sam, zu Packer hinausblinzelnd. Dann stand er auf und drehte sich zur Tür. Er trug ein schmuddeliges weißes T-Shirt und ausgebeulte Boxershors, die übliche Kleidung der Insassen des Todestraktes, weil es dort so heiß war. Die Vorschriften verlangten, daß außerhalb der Zelle die leuchtendroten Overalls getragen werden mußten, aber drinnen trugen sie so wenig wie möglich.
    »Wird ein heißer Tag«, sagte Packer, die übliche Morgenbegrüßung.
    »Warten Sie erst mal den August ab«, sagte Sam, die übliche Erwiderung auf die übliche Morgenbegrüßung.
    »Bist du okay?« fragte Packer.
    »Habe mich nie besser gefühlt.«
    »Dein Anwalt sagte, er würde heute wiederkommen.«
    »Ja. Das hat er gesagt. Ich glaube, ich brauche massenhaft Anwälte, finden Sie nicht auch, Packer?«
    »Sieht so aus.« Packer trank einen Schluck Kaffee und ließ den Blick durch die Abteilung wandern. Die Fenster hinter ihm gingen nach Süden, und ein paar Sonnenstrahlen fielen durch sie herein. »Bis später, Sam«, sagte er und ging weiter. Er überprüfte die restlichen Zellen und fand seine sämtlichen Jungs. Die Türen klickten hinter ihm ins Schloß, als er den Abschnitt A verließ und in sein Büro zurückkehrte.
    Die einzige Lampe in der Zelle befand sich über dem Edelstahl-Ausguß. Er bestand aus Metall, damit er nicht angeschlagen und die Splitter dann als Waffe oder als Selbstmordinstrument benutzt werden konnten. Neben dem Ausguß stand eine Edelstahl-Toilette. Sam schaltete die Lampe ein und putzte sich die Zähne. Es war fast halb sechs. Das Schlafen war schwierig gewesen.
    Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich wieder auf die Bettkante, betrachtete seine Füße und starrte auf den gestrichenen Betonboden, der im Sommer die Hitze und im Winter die Kälte speicherte. Seine einzigen Schuhe, ein Paar Duschsandalen aus Plastik, die er haßte, standen unter dem Bett. Er besaß ein Paar Wollsocken, die er im Winter zum Schlafen anzog. Seine restliche Habe bestand aus einem Schwarzweißfernseher, einem Radio, einer Schreibmaschine, sechs löchrigen T-Shirts, fünf einfachen weißen Boxershorts, einer Zahnbürste, einem Kamm, einer Nagelschere, einem Ventilator und einem Monats-Wandkalender. Sein wertvollster Besitz war eine Kollektion von juristischen Werken, die er im Laufe der Jahre zusammengetragen und fast auswendig gelernt hatte. Sie standen säuberlich aufgereiht auf dem billigen Holzregal gegenüber seinem Bett. In einem Karton auf dem Fußboden zwischen dem Regal und der Tür türmte sich ein gewaltiger Stapel Akten, die chronologisch geordnete Geschichte der Verfahren Staat Mississippi gegen Sam Cayhall. Auch sie kannte er inzwischen auswendig.
    Sams Bilanz war schnell aufgestellt, und sicher war ihm nur der Tod. Anfangs hatte die Armut ihm schwer zu schaffen gemacht, aber diese Sorgen waren schon vor Jahren vergangen. Der Familienlegende zufolge war sein Urgroßvater ein reicher Mann gewesen, mit einer Menge Grundbesitz und Sklaven; aber von den jüngeren Cayhalls besaß keiner viel. Er hatte Verurteilte gekannt, die sich Tag und Nacht mit ihrem Testament beschäftigt hatten, als rechneten sie damit, daß ihre Erben sich über ihre alten Fernseher und Pornomagazine in die Haare geraten könnten. Er dachte daran, gleichfalls eine Letztwillige Verfügung zu treffen und ein Testament aufzusetzen, in dem er seine Wollsocken und seine schmutzige Unterwäsche dem Staat Mississippi vermachte oder vielleicht der NAACP.
    Rechts von ihm saß J. B. Gullitt, ein junger Weißer und Analphabet, der eine Tunte auf ihrem Heimweg vergewaltigt und ermordet hatte. Drei Jahre zuvor war Gullitt bis auf Tage an die Hinrichtung herangekommen, bis Sam mit einem geschickten Antrag interveniert hatte. Sam wies auf mehrere ungeklärte Aspekte hin und machte das Fünfte Berufungsgericht darauf aufmerksam, daß Gullitt keinen Anwalt hatte. Daraufhin wurde sofort ein Aufschub gewährt, und Gullitt wurde sein Freund auf Lebenszeit.
    Links von ihm saß Hank Henshaw, der angebliche Anführer einer längst vergessenen Gangsterbande, die man die »RedneckMafia« nannte. Hank und seine bunt zusammengewürfelte Bande hatten eines Nachts einen Lastzug entführt und eigentlich nur vorgehabt, die Fracht zu stehlen. Der Fahrer zog einen Revolver und wurde bei der darauffolgenden Schießerei getötet. Hanks Familie bezahlte gute Anwälte, und deshalb war damit zu rechnen,

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