Die Kampagne
blutend fiel er zu Boden. Aber er weinte nicht.
Von diesem Tag an sollte er nie wieder weinen.
Kapitel 18
S haw setzte sich im Bett auf. Er roch seinen Schweiß und schmeckte ihn auf den Lippen. Er stand auf, öffnete das Fenster und ließ die Schrecken eines sechsjährigen Jungen von der kühlen Luft Edinburghs davontragen.
Shaws Zimmer im Balmoral ging auf die Princess Street hinaus, eine elegante Hauptverkehrsstraße voller Läden, Pubs und Restaurants. Rechts erhob sich der große Hügel mit der riesigen Burg von Edinburgh, gegen die Malahide Castle geradezu winzig wirkte. Der Palast von Holyroodhouse, die offizielle Sommerresidenz der britischen Königsfamilie, markierte das andere Ende der Stadt.
Muss 'ne feine Sache sein, eine offizielle Residenz zu haben, ging es Shaw durch den Kopf.
»Muddi«, sagte er mit leiser Stimme. Seit fast einem Jahr hatte er nicht mehr diesen quälenden Albtraum gehabt. Er hatte schon geglaubt, ihn endlich los zu sein, doch wie bei vielen wichtigen Dingen in seinem Leben hatte er sich auch diesmal geirrt.
Shaw war am nächsten Tag aus dem Waisenhaus geworfen worden, obwohl die alte Nonne sich leidenschaftlich für ihn eingesetzt hatte. Der andere Junge, ein stämmiger Kerl von zwölf Jahren, war von dem kleinen Shaw schwer verletzt worden. Man hatte sogar erwogen, die Polizei einzuschalten. Aber wie sollte man einen Sechsjährigen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen? Shaw erinnerte sich, Begriffe wie »vorsätzliche schwere Körperverletzung« gehört zu haben. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, was das bedeutete, aber er hatte gewusst, dass er den anderen Jungen hatte umbringen wollen.
Schließlich aber war man zu der Ansicht gelangt, dass man ein Kind, das nicht einmal das Wort »Mutti« richtig aussprechen konnte, unmöglich eines Verbrechens anklagen könne.
Schwester Mary Agnes Maria ... was für ein wunderschöner Name das gewesen war. Alle hatten sie Schwester MAM genannt, was Shaw im Stillen in MOM geändert hatte. Eine andere Mutter hatte er nie im Leben gekannt.
Er hatte sich selbst »A Shaw« genannt, aber nicht, weil er ein Shaw war; der Grund dafür war vielmehr im Waisenhaus zu finden: An der Wand über dem Bett des Jungen, der Shaw gegenüber geschlafen hatte, war der Buchstabe »A« gemalt gewesen. Einst war er Teil eines Wortes gewesen, doch das »M«, das »E« und das »N« waren mit der Zeit verblasst, und die arme, überbeschäftigte Schwester Mary Agnes Maria hatte nie die Zeit gefunden, das ursprüngliche »AMEN« zu rekonstruieren.
Shaw hatte das nicht gestört. Er hatte sich den Buchstaben angeschaut und sich vorgestellt, wie die Linien des »A« sich verformten, bis sie sich in das runde Gesicht seiner Mutter verwandelt hatten. Der Querstrich in der Mitte bog sich dabei zu einem Lächeln, weil seine Mutter sich unbändig freute, ihn zu sehen. Sie war zu ihm zurückgekommen. Sie würden wieder zusammen sein. Sie würden von hier verschwinden. Das »A« war sein Freund.
Doch jedes Mal, wenn die Sonne aufging, war der Buchstabe verblasst, und Shaws Träume waren der trostlosen Realität gewichen. Seit jener Zeit hatte Shaw die Nacht stets mehr genossen als den Tag. Er würde für immer ein Nachtmensch bleiben.
Die Jahre waren schnell vergangen. Shaw kam von einem Waisenhaus ins andere, doch nirgends fand er noch einmal eine Schwester Mary Agnes Maria. Dann kamen die Pflegeheime und andere Einrichtungen für Kinder, die zwar nicht kriminell waren, aber doch so gefährdet, dass niemand sie haben wollte. So ging es Jahr für Jahr, Tag für Tag, bis zu Shaws 18. Geburtstag ...
Shaw schloss das Fenster und setzte sich aufs Bett. Der Mann auf der Hochgeschwindigkeitsfähre von Dublin hatte Kontakt zu ihm aufgenommen, und sie waren zu den offenen Luken am Heck gegangen. Als Wind und Maschinenlärm ihr Gespräch übertönten, hatte der Mann Shaw einen Teil von dem erklärt, was er wissen musste, wobei er Shaw mit einem Blick gemustert hatte, der besagte: Wenn du das überlebst, grenzt es an ein Wunder.
Im Schnellzug von Wales nach London hatte Shaw aus dem Fenster geblickt, hatte den Anblick von Meer und Bergen genossen und die Alltagsgespräche der anderen Passagiere weitgehend ignoriert. In seinem Leben gab es keinen Alltag; nichts war normal, und so fand er auch keinen Bezug zu der Welt anderer Menschen.
Mit Ausnahme von Anna. Sie war seine erste und einzige Verbindung zum Rest der Menschheit.
Im Nachtzug nach Schottland bekam er erneut
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