Die Kampagne
Besuch, diesmal im Schlafwagen, von einer Frau. Sie war jung, sah aber alt aus. Körperlich war sie durchaus attraktiv, doch schien sie den Lebensmut verloren zu haben. Sie war nur noch eine leere Hülle. Leute wie Frank hatten ihr die Seele aus dem Leib gerissen. Mit müder Stimme hatte sie Shaw den Rest von dem erklärt, was er wissen musste. Nichts wurde je niedergeschrieben; also merkte er sich alles. Machte er auch nur den geringsten Fehler, war er so gut wie tot. So einfach war das.
Shaw stand auf, zog sich an und schaute erneut auf das Buch, in das Anna die Widmung geschrieben hatte.
Liebe ohne Vertrauen ist nichts.
Sie schlief bestimmt schon. Er rief trotzdem an. Überraschenderweise meldete sie sich bereits nach dem zweiten Klingeln.
»Ich habe gehofft, dass du es bist«, sagte sie mit wacher Stimme. »Wie war die Reise?«
»Ich habe die Widmung gelesen.«
Anna schwieg.
Shaw schluckte. »Ich will dir vertrauen. Ich tue es schon. Schließlich habe ich dir gesagt, was ich beruflich mache. Weißt du eigentlich, wie schwer das für mich war?«
»Ja, aber es gibt offensichtlich noch andere Dinge, die du mir nicht sagen kannst.«
»Stimmt«, gab er zu.
»Wenn wir verheiratet sind, wirst du dann auch ohne ein Wort gehen? Und ohne ein Wort wieder auftauchen?«
»Ich werde in den Ruhestand gehen. Das sagte ich dir doch schon. Und ich habe einen Schreibtischjob.«
»Beleidige meine Intelligenz nicht mit Geschichten über Gepäckstücke, die aus Flugzeugen fallen. Und Leute mit einem Schreibtischjob gehen nicht in eine Burg, ohne eine Führung mitzumachen. Und sie nehmen sich auch nicht die Zeit, um mit Fähren von Irland nach Schottland zu fahren. Hast du dich dort mit jemandem getroffen?«
Annas Worte trafen ihn wie Fausthiebe. »Du hast mich verfolgt?«
»Natürlich. Ich will dich heiraten, und ich hasse den Gedanken, dich zu verfolgen, geschweige denn es zu tun.« Ihre Stimme zitterte, und Shaw hörte ein leises Schluchzen. Er wünschte sich, er könne sie in den Arm nehmen und ihr sagen, alles werde wieder gut; doch er hatte sie schon genug angelogen.
Shaw fand seine Stimme wieder. »Du kannst immer noch einen Rückzieher machen, Anna. Ich würde das verstehen.«
Ihr Tonfall wurde harsch. »Du würdest es verstehen? Das gefällt mir nicht. Du solltest es nicht verstehen. So wäre es jedenfalls bei mir, wenn du gehen würdest.«
»Ich liebe dich, und ich werde dafür sorgen, dass alles gut geht. Das verspreche ich dir.«
Shaw glaubte, neuerliches Schluchzen zu hören, und seine Schuldgefühle wuchsen.
»Und wie willst du dafür sorgen?«, fragte Anna. »Kannst du mir das sagen?«
»Nein«, antwortete Shaw ehrlich. »Das kann ich nicht.«
»Wohin fährst du von Schottland aus?«
»Nach Heidelberg.«
»Meine Eltern wohnen gut eine Stunde von dort entfernt, in einem kleinen Ort namens Wisbach, nicht weit von Karlsruhe. Sie haben einen Buchladen. Geh sie besuchen. Sie heißen Wolfgang und Natascha. Nette Leute. Freundliche Leute. Ich habe mir schon lange gewünscht, dass du sie kennenlernst, aber du warst immer zu beschäftigt.«
Shaw war nicht zu beschäftigt gewesen - er hatte zu viel Angst gehabt.
»Du willst, dass ich ohne dich zu ihnen fahre?«
»Ja. Bitte meinen Vater um meine Hand. Wenn er Ja sagt, werden wir heiraten ... falls du dann noch willst.«
Ihre Worte erstaunten ihn. »Anna, ich ...«
Anna redete rasch weiter. »Wenn es dir die Sache wert ist, fährst du zu ihnen. Ich werde ihnen sagen, dass du kommst. Fährst du nicht, habe ich meine Antwort.«
Anna unterbrach die Verbindung. Langsam legte Shaw den Hörer auf und starrte auf das Blatt Papier auf dem Schreibtisch, auf das er immer wieder den Namen Anna Fischer geschrieben hatte. Er zerriss das Blatt, verließ das Balmoral und ging die Princess Street hinunter, vorbei an den geschlossenen Geschäften. Zwei Stunden später schlenderte er noch immer durch die alte schottische Hauptstadt, als die Sonne aufging und lange Schatten über die Stadt warf - Schatten, in denen Shaw sich jeden seiner Albträume vorstellen konnte, und davon hatte er mehr als die meisten anderen Menschen.
Er würde zu Annas Eltern und ihrem Buchladen in Wisbach fahren, und er würde sie um die Hand ihrer Tochter bitten.
Ja, das würde er tun ... falls er dann noch lebte.
»Wo ist Muddi?«, flüsterte er ins Halbdunkel, als er ins Balmoral zurückkehrte, um sich auf seine möglicherweise letzten Stunden auf Erden vorzubereiten.
Kapitel 19
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