Die Kampagne
Als ihr Handy klingelte, erschrak sie. Es war eine amerikanische Nummer, die sie nicht erkannte.
»Hallo?«
»Katie James?«
»Ja.«
»Mein Name ist Kevin Gallagher, Kulturredakteur bei Scribe. Wir sind eine noch recht neue Tageszeitung in den Vereinigten Staaten.«
»Ich habe schon Artikel von Ihnen gelesen. Sie haben ein paar gute Reporter.«
»Aus dem Munde einer zweifachen Pulitzerpreisträgerin ist das ein beachtliches Kompliment. Sie sind sicher sehr beschäftigt, aber ein Freund bei der Tribune hat mir Ihre Nummer gegeben. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie nicht mehr dort angestellt.«
»Das stimmt«, bestätigte Katie und fügte rasch hinzu: »Unüberbrückbare Differenzen. Warum rufen Sie an?«
»Nun, man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass eine Reporterin von Ihrem Kaliber nicht allzu oft frei wird. Ich würde Sie gerne anheuern, die Story für unser Blatt zu schreiben.«
»Die Story?«
Gallagher lachte. »Sagen wir so: die einzige Story, die im Augenblick interessiert.«
»Die Rote Gefahr?«
»Nein«, erwiderte Gallagher. »Da haben wir bereits ein Team drauf angesetzt. Ich spreche vom Londonmassaker.«
Katies Herz schlug schneller.
»Katie? Sind Sie noch da?«
»Jaja. Wie soll der Deal aussehen?«
»Wir können Ihnen nicht das Gleiche zahlen wie die Tribune; aber wir zahlen Ihnen den üblichen Satz pro Story für jemanden in Ihrer Klasse zuzüglich Spesen - in vernünftigem Rahmen, versteht sich. Sollten Sie auf etwas Großes stoßen, können wir noch einmal über die Bezahlung reden. Sie haben freie Hand, was die Story betrifft. Wie hört sich das an?«
»Genau danach habe ich gesucht. Tatsächlich bin ich im Augenblick sogar in Europa.«
»Na, das nenne ich doch mal einen netten Zufall.«
Ich nicht.
»Den Vertrag und alle weiteren Einzelheiten kann ich Ihnen per Mail zukommen lassen.«
Sie sprachen noch ein paar Minuten; dann legte Katie auf. Sie konnte einfach nicht glauben, welche Wendung die Ereignisse mit einem Mal genommen hatten. Sie schaute auf die Uhr. Ihr blieb noch gerade genug Zeit, um um ein Uhr den Eurostar nach London zu erwischen.
Kapitel 50
D er gelb-blaue Eurostar fuhr pünktlich ab, und einmal an den Vorstädten von Paris vorbei, beschleunigte er auf fast 300 Stundenkilometer. Die Gleise waren speziell für Hochgeschwindigkeitszüge gebaut, und so verlief die Fahrt ruhig, sodass man sogar ein Nickerchen halten konnte, wenn man wollte.
Shaw saß in der ersten Klasse, wo er einen breiten, bequemen Sitz genoss sowie ein Drei-Gänge-Menü mit Wein, professionell präsentiert von einem elegant uniformierten Steward, der Englisch und Französisch sprach. Doch Shaw aß und trank nichts, starrte nur mürrisch aus dem Fenster.
Shaw dachte nur selten an die Vergangenheit, doch auf dieser Fahrt tat er es, wenn auch nur, weil er keine Zukunft mehr hatte, über die sich nachzudenken lohnte. Für ihn hatte sich der Kreis des Lebens geschlossen. Abgegeben in einem Waisenhaus von einer Frau, die zwar seine leibliche Mutter war, an die er sich jedoch nicht mehr erinnern konnte, und dann von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben, hatte er sich ein Erwachsenenleben als Einzelgänger aufgebaut. Bevor er sich unfreiwillig Franks Gruppe angeschlossen hatte, war er jahrelang von einem Land zum anderen gereist und hatte für Geld die Arbeit anderer erledigt. Dabei hatten ihn weder das persönliche Risiko noch die moralischen Folgen seiner Taten gekümmert. Er hatte Menschen Schmerzen zugefügt und sie ihm. Einiges von dem, was er getan hatte, hatte die Welt zu einem sichereren Ort gemacht; anderes hatte die Gefahr für die sechs Milliarden Menschen auf diesem Planeten nur noch vergrößert. Doch alles, was er getan hatte, war von Regierungen oder Organisationen, die im Namen dieser Regierungen handelten, abgesegnet gewesen.
Das war sein Leben gewesen ...
... bis Anna gekommen war.
Bevor er sie kennen gelernt hatte, war Shaw der festen Überzeugung gewesen, sein Leben würde in dem Augenblick enden, da eine von Franks Missionen so richtig schiefging. Und damit hatte er nie ein Problem gehabt. Bevor er Anna kennenlernte, hatte Shaw keinen Grund gehabt, sein Leben über das unmittelbare Verlangen nach Selbsterhaltung hinaus zu verlängern. Doch wenn man nur ein halbes Leben lebt, lässt selbst dieser Instinkt im Laufe der Jahre nach. Dank Anna hatte er plötzlich einen wahren, einen guten Grund zum Leben gehabt. Infolgedessen hatte Shaw sich immer besser auf
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