Die Kampagne
Royce setzte sich davor und begann zu tippen.
»Wir haben ein Videofeed von einer Überwachungskamera auf der Straße, die eigentlich Nummernschilder für die Stauabgabe registriert. Das hier hat die Kamera am Tag der Morde aufgezeichnet.«
Shaw schaute Royce über die Schulter, als der Bildschirm zum Leben erwachte. Da die Kamera hoch an einem Mast montiert war, konnte man die komplette Front des Gebäudes sehen. Ein Van mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach hielt vor dem Haus, und zwei Männer stiegen aus.
Royce erklärte: »Das ist die Uniform der Londoner Stadtwerke.«
Die Männer holten ein paar Absperrkegel aus dem Van und sperrten damit die Straße und beide Bürgersteige ab. Shaw fiel auf, wie sich im selben Augenblick die Satellitenschüssel bewegte.
»Mit der Schüssel stören sie den Handyempfang, nicht wahr?«, sagte er.
Royce nickte. »Und vorher haben sie bereits die Festnetzkabel unterbrochen.«
Shaw versteifte sich, als auf dem nächsten Frame gut ein halbes Dutzend Männer aus dem Van ins Gebäude stürmten. Alles geschah so schnell, dass man ihren Bewegungen kaum folgen konnte. Selbst jemandem, der zufällig aus einem Fenster schaute oder gerade vorbeikam, wäre nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
»Spielen Sie das noch mal in Zeitlupe ab«, bat Shaw.
Augenblicke später wurde die Szene noch einmal mit halber Geschwindigkeit gezeigt und der Ausschnitt vergrößert. Die Männer waren allesamt kräftig und durchtrainiert. Lebensechte Masken verhüllten ihre Gesichter. Falls sie Waffen dabeihatten, waren sie unter den langen Mänteln verborgen. Shaw schaute sich jede einzelne Gestalt genau an. Er suchte nach eindeutigen Unterscheidungsmerkmalen, einem Stück enthüllter Haut, auf dem vielleicht eine Narbe oder eine Tätowierung zu sehen war, doch er wurde enttäuscht.
Royce, der ihn beobachtet hatte, nickte mitfühlend. »Ich weiß. Wir haben uns das mindestens ein Dutzend Mal angesehen, aber uns ist auch nichts aufgefallen. Diese Kerle waren offensichtlich Profis. Sie wussten, dass die Kamera dort war, und verhielten sich entsprechend.«
»Ich nehme an, das Feed wird nicht in Echtzeit überwacht?«
»Leider nicht, sonst hätte diese Aktion eine ziemlich heftige Reaktion der Polizei ausgelöst, das kann ich Ihnen versichern. Auch das müssen diese Kerle gewusst haben.«
»Ich brauche wahrscheinlich gar nicht zu fragen, aber was ist mit dem Van?«, erkundigte sich Shaw.
»Nummernschild und Fahrzeug führen zu nichts«, erklärte Royce. »Der Van wurde vor gut einer Woche von einem Schrottplatz in Sussex gestohlen, und die Nummernschilder stammen von einem Wrack in einer Werkstatt hier in London. Die Hintertür des Gebäudes ist eingetreten worden; also kam vermutlich ein weiteres Angriffsteam von dort.«
»Ich glaube, damit treffen Sie den Nagel auf den Kopf: ein Angriffsteam. Vorne, hinten, jedes Stockwerk systematisch durchkämmen. Sie hatten vermutlich eine Liste mit sämtlichen Personen, die dort arbeiteten, und einen Gebäudeplan.« Shaw sprach mehr zu sich selbst als zu Royce. »Okay, zeigen Sie mir den Rest des Feeds.«
Shaw versteifte sich noch einmal, als Glassplitter auf die Straße regneten. Er sah einen Kopf im Fenster auftauchen. Die Person schrie. Shaw konnte sie allerdings nicht hören, denn zu dem Feed gab es keine Tonspur. Aber das war auch nicht nötig.
»Das ist Anna!«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Royce.
Shaw schaute ihn hart an. »Wie viel hat Frank Ihnen über Anna und mich erzählt?«
»Nicht allzu viel, aber genug. Und ich war in Miss Fischers Büro. Ich habe die Fotos von Ihnen beiden gesehen. Es tut mir leid. Waren Sie schon lange zusammen?«
»Nicht lange genug.«
»Ich kann mir denken, wie Sie sich fühlen.«
»Versuchen Sie das gar nicht erst«, gab Shaw zurück.
Royce räusperte sich und drehte sich wieder zum Bildschirm um. »Die Fenster sind bei Malerarbeiten dummerweise verklebt worden; deswegen musste sie die Scheibe einschlagen.«
»Dummerweise? Sind Sie sicher?«
»Wir haben die Malerwerkstatt überprüft. Die Firma ist echt. Sie kümmern sich schon seit Jahrzehnten um die Gebäude in dieser Gegend. Sämtliche Angestellte haben ein Alibi. Offenbar sind solche Schlampereien nicht selten. Ich habe meine Wohnung auch vor drei Jahren streichen lassen, und ich kann die verdammten Fenster noch immer nicht richtig öffnen.«
Shaw hörte ihm gar nicht mehr zu. Er schaute sich das Bild von Anna an, wie sie aus dem Fenster rief,
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