Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
einem menschlichen Gastkörper?«
»Nein, Liebes. Der Himmel selbst ist mein Körper. Das hier ist bloß eine Erscheinungsform.«
»Aber ich dachte –«
»Dass Götter außerhalb der Duat einen Gastkörper brauchen? Für mich ist es ein bisschen einfacher, weil ich ein Geist der Luft bin. Da mich das Lebenshaus nie erwischt hat, gehöre ich zu den wenigen Göttern, die niemals eingesperrt wurden. Ich bin es gewohnt … keine bestimmte Form zu haben.« Plötzlich flackerten Nut und das ganze Apartment auf. Ich hatte das Gefühl, durch den Boden zu fallen. Kurz darauf stand das Sofa wieder ruhig da.
»Mach das bitte nicht noch mal«, bat ich.
»Entschuldige«, erwiderte Nut. »Entscheidend ist: Jede Gottheit ist anders. Doch all meine Brüder sind nun frei und suchen nach einem Platz in eurer modernen Welt. Man wird sie nicht wieder einsperren können.«
»Das wird den Magiern nicht gefallen.«
»Nein«, stimmte Nut zu. »Das ist der erste Grund, weshalb du hier bist. Ein Kampf zwischen den Göttern und dem Lebenshaus würde nur Chaos erzeugen. Das musst du den Magiern klarmachen.«
»Sie werden nicht auf mich hören. Sie halten mich für einen Gottling.«
»Du bist ein Gottling, Liebes.« Sie streichelte mir übers Haar und ich spürte, wie Isis sich in mir rührte und mit meiner Stimme sprechen wollte.
»Ich bin Sadie Kane«, erwiderte ich. »Ich hab Isis nicht darum gebeten, sich an mich dranzuhängen.«
»Die Götter kennen deine Familie seit vielen Generationen, Sadie. In alten Zeiten haben wir zum Wohle Ägyptens zusammengearbeitet.«
»Die Magier behaupten, die Götter wären schuld am Untergang des Reiches.«
»Das ist eine lange und sinnlose Debatte«, meinte Nut und ich nahm einen Anflug von Ärger in ihrer Stimme wahr. »Alle Reiche gehen unter. Aber als Vorstellung ist Ägypten ewig – der Triumph der Zivilisation, die Kräfte der Maat, die die Kräfte des Chaos bezwingen. Generation für Generation wird diese Schlacht schon geführt. Jetzt bist du an der Reihe.«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte ich. »Wir müssen Seth besiegen.«
»Aber ist das so einfach, Sadie? Seth ist auch mein Sohn. In den alten Zeiten war er Res mächtigster Stellvertreter. Er schützte die Barke des Sonnengottes vor der Schlange Apophis. Damals existierte das Böse wirklich. Apophis war die Verkörperung des Chaos. Er hasste die Schöpfung von dem Moment an, als der erste Berg aus dem Meer aufstieg. Er hasste die Götter, die Sterblichen und alles, was sie schufen. Seth kämpfte gegen Apophis, denn er war einer von uns.«
»Und dann wurde er böse?«
Nut zuckte die Achseln. »Seth war immer Seth, im Guten wie im Schlechten. Aber er ist Teil unserer Familie. Es ist immer schwierig, ein Familienmitglied zu verlieren … oder?«
Mir schnürte es die Kehle zu. »Das ist ungerecht.«
»Erzähl mir nichts von Gerechtigkeit«, entgegnete Nut. »Seit fünftausend Jahren hält man mich von meinem Ehemann Geb getrennt.«
Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Carter darüber mal etwas erzählt hatte, doch während ich ihr zuhörte und den Schmerz in ihrer Stimme wahrnahm, erschien es mir in anderem Licht.
»Was ist passiert?«, erkundigte ich mich.
»Es ist die Strafe dafür, dass ich meine Kinder zur Welt gebracht habe«, erwiderte sie bitter. »Ich habe Res Wünschen nicht gehorcht, deshalb befahl er meinem eigenen Vater, Schu –«
»Moment«, unterbrach ich sie. »Schuh?«
»S-c-h-u«, antwortete sie. »Der Gott der Luft.«
»Oh.« Warum hatten diese Götter so schräge Namen? »Erzähl bitte weiter.«
»Re befahl meinem Vater, Schu, uns für immer zu trennen. Ich wurde in den Himmel verbannt, während mein geliebter Geb die Erde nicht verlassen kann.«
»Was würde passieren, wenn ihr es versucht?«
Nut schloss die Augen und spreizte die Finger. An der Stelle, wo sie saß, tat sich ein Loch auf und sie stürzte in die Tiefe. Sofort zuckten in den Wolken unter uns Blitze. Wind stürmte durch die Wohnung, fegte Bücher aus den Regalen, riss Bilder herunter und schleuderte sie ins Leere. Meine Teetasse flog mir aus der Hand. Ich krallte mich am Sofa fest, um nicht selbst weggepustet zu werden.
Unter mir schlug der Blitz in Nuts Gestalt ein. Der Wind stieß sie brutal nach oben, sie schoss an mir vorbei. Mit einem Mal legten sich die Winde. Nut setzte sich wieder auf die Couch. Sie hob die Hand und die Wohnung reparierte sich von selbst. Alles wurde wieder normal.
»Das passiert«, erklärte sie
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