Die Kanzlerin - Roman
verärgert, zog seinen Vogel aber hoch und meldete der Einsatzzentrale die Änderung der Flughöhe: »Anweisung der Kanzlerin: Wir beobachten die Seilbahn aus grösserer Distanz. Sie fühlt sich gestört. Kommen.«
»Verstanden. Halten Sie Distanz. Aber im Übrigen gilt, dass auf Schweizer Hoheitsgebiet die deutsche Kanzlerin zwar Wünsche äussern kann, aber keine Befehle zu erteilen hat. Kommen.«
»Verstanden. Die deutsche Kanzlerin hat keine Befehle zu erteilen. Melde mich jetzt beim Sicherheitsdienst in der Kabine. Kommen.«
»Verstanden. Sie melden sich beim Sicherheitspersonal in der Kabine. Ende.«
»Jakob von Puma an Seilbahncrew: Ist in der Gondel alles in Ordnung? Kommen.«
»Alles o.k. So langsam lockert sich die Atmosphäre etwas. War ziemlich steif alles zu Beginn. Keine besonderen Vorkommnisse. Kommen.« Der Säntisbahnmitarbeiter wartete auf die Bestätigung, bevor er sein Funkgerät zur Seite legte.
»Verstanden. Lockere Atmosphäre. Keine besonderen Vorkommnisse. Ende.«
» V erdammt noch mal, hör auf zu heulen, und mach uns endlich einen Kaffee«, sagte Tricolor entnervt.
Ecstasy schluchzte hemmungslos und fragte immer wieder: »Wie konnte das passieren? Warum sind Anarchisterix und Hardcore tot? Was ist schiefgegangen?«
»Gar nichts ist schiefgegangen«, sagte Clara mit fester Stimme, und das wirkte.
Ecstasy schien begriffen zu haben und setzte Wasser auf.
Tricolor schaltete vom Schweizer Fernsehen zu CNN, dann auf ARD, ZDF, RTL und machte den Ton aus.
»Es ist 6 Uhr 30, Sie hören die Nachrichten von Schweizer Radio DRS.«
» I ch glaube, mir ist schwindlig. Alles dreht sich.« Entwicklungshilfeministerin Merrit Amelie Kranz wollte aufstehen, griff sich an den Kopf und fiel auf die dunkelblaue Couch zurück.
»Merrit Amelie, ich kann zwar nicht beurteilen, ob sich Ihre Gedanken im Kreis bewegen, aber sicher scheint mir, dass sich die Bar dreht und wir darum das Vergnügen haben, einen Rundumblick zu geniessen, ohne dass wir uns im Kreis bewegen müssten. Bleiben Sie also ruhig sitzen. Im Übrigen sieht man von hier oben angeblich sechs Länder«, sagte die Kanzlerin, »und unser Finanzminister kann uns sicher sagen, in welche Richtung wir blicken müssen, um in einen dieser ominösen Liechtensteiner Safes zu sehen.«
Aber Kiki Ritz hatte den Mund voll mit Käse, und Engel sprang ein: »Östlich.«
»Östlich?«, fragte die Kanzlerin.
»Also«, sagte Engel, der sich als Einziger weder aufs Sofa noch auf einen Barhocker setzen mochte, sondern breitbeinig mitten in der Kabine stand und jetzt gestikulierte, »im Osten geht dieSonne auf, also dort!« Sein rechter Zeigefinger wies gen Himmel, und er hatte endlich das Glück des Tüchtigen, das die Kanzlerin bei Gelegenheit immer wieder in Zweifel zu ziehen wusste: Er zeigte auf eine Sonne, die sich ganz langsam entblösste und ihre ersten Strahlen abfeuerte.
Hendricks schaute auf die Uhr. »Pünktlich, selbst die Sonne ist in der Schweiz pünktlich. 6 Uhr 30, auf die Minute.«
Merrit Amelie Kranz mochte nicht warten, bis sich die Bar gedreht hatte, stand auf und stolperte der Sonne entgegen, die hinter ihrem Rücken aufgegangen war. Sie stolperte Hendricks in die Arme, und der hatte angenehm kräftige Hände.
»Einen richtigen Bayern wirft so leicht nichts um«, lachte Hendricks, »aber warum siezen wir uns eigentlich immer noch? Valentin«, sagte er und drückte die dankbaren Hände von Merrit Amelie, die von Sonnenaufgängen in Afrika, Indien und Südamerika sprach, wobei der Sonnenaufgang über dem Säntis so einzigartig sei wie alle anderen auch.
»Das erste Paar liegt sich schon in den Armen«, sagte Titus Annaheim, »also ist es Zeit für etwas Tanzmusik.« Auf sein Zeichen hin nahm einer der Musiker ein Instrument, und die Kanzlerin sagte: »Eine Klampfe.«
Titus Annaheim amüsierte sich. »Eine Klampfe ist eine Gitarre. Aber das hier ist ein Hackbrett.«
»Dann kann uns ja vielleicht unser Schweizer Banker die Hackbrettordnung erklären«, sagte die Kanzlerin, und Deutsche-Bank-Chef Nico Glanzmann unterbrach ein anregendes Gespräch mit Serviererin Laetitia, einer schwarzhaarigen jungen Frau mit beachtlichen Massen. »Oder sind Sie vielleicht gar kein Appenzeller?«
»Ich habe in St. Gallen studiert«, sagte Glanzmann, »aber was ein Appenzeller Hackbrett ist, das weiss ich. Es unterscheidet sich vom steirischen Hackbrett, das diatonisch gestimmt ist und einenQuinten- und Basssteg hat. So ähnlich wie das Walliser
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