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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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und damit das Künstliche und Unechte gemeint ist, das Nachgemachte. Steht auch in Wikipedia. Ich aber frage dich: Was willst du denn nachmachen? Und stört es dich überhaupt nicht, dass du dafür Vormacher brauchst? Die Politiker, lieber Hartz4, reden von der Realität wie von einem Fetisch. Wie von einer fixen Grösse, nach der sich alles bemessen lässt. Aber die Realität, auch deine beschissene Arbeitslosenrealität, ist immer nur eine momentane Grösse. Allerdings, so verschwindend klein die Realität auch sein mag, in der wir sind, und so vergänglich sie auch ist – diese Realität ist trotzdem unser grösster Moment. Diesen Moment aber festnageln zu wollen ist lebensgefährlich. Die Realität als Fetisch ist gemeingefährlich. Doch ebendas braucht die Politik. Weil sie Angst machen will. Andererseits erweckt die Politik den Eindruck, dass diese Realität zu fassen ist, dass sie korrigierbar und veränderbar ist. Das Einzige aber, was in der Realität von Bedeutung ist, das ist der Faktor Zeit. Die Realität hat also nur eine unsichtbare Qualität. Alles andere, all das, woran wir die Realität festmachen möchten – um uns so orten zu können –, ist aber darum völlig bedeutungslos, weil es den Augenblick nicht überlebt. Lieber Vollidiot Hartz4, streich doch mal aus deiner Realität Aldi und Kaiser’s, streich Lagerfeld in deinen dummen Träumen, streich die Billigairlines, mit denen Studenten, die zu faul sind, für ihr Studium zu jobben, gern verreisen, streich dein Monatsabo, streich die Tauben, die deinen Balkon vollscheissen, kurz gesagt: Hartz4, streich dich. Du bist ein Plastikmensch. Ich möchtedir nie begegnen. Weil auch das Unechte einen Geruch hat. Und Plastikmenschen stinken.«

E s ist Juli, und der Eisklotz schwitzt, klotzig, hart und kalt tropft er ab, bald gibt es mich nicht mehr, dachte Loderer und fühlte nichts dabei. Er spürte sich schon lange nicht mehr. Aber seine Gedanken waren glasklar. Die Hitze trieb die Leute ins Freie. Männer, Frauen, Kinder. Vor einem Jahr noch hätte er nur Frauen gesehen. Titten, Ärsche, Haut und Haar. Vor ihm ging eine selbstbewusste Schöne mit sehr beweglichen Hüften. Routiniert, raffiniert und billig. Für ihn kein Problem mehr. Er war ein Eisklotz und tropfte seine letzte Zeit ab. Obwohl er gelegentlich noch aktiv war. Wenn er etwas brauchte, dann nahm er sich das. Aber meistens nahm er sich etwas, obwohl er gar nichts brauchte. »Ich wünsche dir, dass du immer einen Wunsch hast«, hatte ihm seine Ex einmal gesagt. Loderer wechselte auf die Busspur. Er fuhr langsam. Er liess sich nicht weghupen. Vor ein paar Wochen erst war ihm bewusst geworden, dass er keine Angst mehr hatte. Plötzlich hatte er keine Angst mehr und fühlte sich frei. Doch ungefährlich war das nicht.
    Die Autohäuser stellten ihre Glaspaläste mitten in die City. Mercedes, Ferrari, Maybach. Es war ihm egal, vor welcher Schaufensterscheibe er stehen bleiben würde. Er suchte einen Spiegel. Er wollte sich ins Gesicht schauen. Reglos blickte er sich an und drückte sich auf der linken Wangenseite mit zwei Fingern die Falten weg. Er schaute in glasklare blaue Augen und empfand gar nichts dabei. Kein Wiedererkennungswert, dachte er und wandte sich ab. Er war fertig mit sich, aber ein paar Dinge waren noch zu erledigen.
    »Guten Morgen, Herr Loderer, ich habe neue Feuerzeuge bekommen.« Der ansonsten notorisch übelgelaunte kurdische Kioskbesitzer strahlte ihn an.
    »Prima«, sagte Loderer und steckte das Billigfeuerzeug in seinen dunkelgrauen Kittel. »Man kann damit allerdings höchstens fünf, sechs Zigaretten anzünden.«
    »Die sind nicht gut?«, fragte die kurdische Sonne.
    »Nein. Die taugen nichts«, sagte er, »aber danke.«
    Loderer schnürte sich den Nierengürtel um, zog den Reissverschluss seines Harley-Sweatshirts hoch, setzte sich die fast luftdichte Sonnenbrille auf, dann den Helm und drückte auf den Starterknopf. Seine Stirn war eiskalt vor Hitze, als er sich mit seiner giftgrünen Vespa auf den Weg machte, wie jeden Tag. Wenn er auf dem Roller sass, fühlte er sich mittendrin, dann war er in der Stadt, dann war er in Berlin, dann fühlte er sich frei und konzentrierte sich nur auf die Strasse, auf diese miserablen Berliner Strassen mit ihren Loch-Ness-grossen Schlaglöchern, unvermutet auftauchenden Höckern, herausragenden Pflastersteinen, falsch eingesetzten Gullydeckeln und Spuren, bei denen so dick aufgetragen worden war, dass manche Fahrbahnen wie

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