Die Kanzlerin - Roman
Sandverwehungen zu befahren waren. Unterwegs auf dem Fleckenteppich einer Stadt, die mit ihrer Armut kokettierte und doch nur armselig war. Zusammengeschweisste Dörfer, eine riesige Provinz, das war Berlin, und wohl darum zog es so viele Schweizer in diese Grossstadt, die allerlei Illusionen nährte, und die grösste davon war, unsichtbar zu sein. Loderer beobachtete ihr Verhalten mit Verachtung, diese zittrigen ersten Schritte aus dem Gesichtsfeld ihrer alten Umgebung, das falsche Lächeln, als ob sie schon entkommen wären, als ob sie sich nun gehenlassen könnten, bloss weil es hier keine winkenden Verwandten gab.
Eine Fiatfahrerin verpasste die Grünphase, weil sie telefonierte, aber er schimpfte nicht, sondern wartete, bis sie endlich losfuhr. Dann wechselte er auf die zweite Fahrspur, und als er auf gleicher Höhe war, fixierte er die Tante. Vermutlich hiess sie Silke.
»Du blöde Kuh, du«, schrie er. »Du Currywurst. Verform dich! Verzieh dich! Verfahr dich! Bieg ab!«
Ein bisschen überrascht war Loderer dann doch, als die Fiatkutscherin tatsächlich den rechten Blinker stellte und kurz darauf rechts anhielt. Es war ein verdammt befriedigendes Gefühl, und Loderer wusste: Das wird ein guter Tag.
E s wurde aber kein guter Tag. Schon bevor Loderer in seinem Büro war, kam es beim Kaffeeautomaten zu einem gehässigen Dialog mit Kollege Bossdorf.
»Milch? Zucker?«
»Alles«, sagte Loderer.
»Alles gibt es nicht, Herr Loderer. Aber gäbe es alles, wäre das doch ziemlich langweilig, nicht?«
»Ich will nur Milch und Zucker im Kaffee.«
»Aber gern, sehr gern, Herr Loderer, den brauchen Sie auch, Sie sehen miserabel aus. Schlecht geschlafen? Oder kommen Sie mit dem Alleinsein nicht klar?«
»Wie meinen Sie das, Herr Bossdorf?«
»Ist nicht Ihre Frau verstorben, vor etwa einem Jahr? Oder haben Sie das schon abgehakt und leben wieder ganz fidel und sind nur so bleich, weil die letzte Nacht so wunderbar schwarz war?«
Loderer schwieg, sagte dann aber: »Vor zwei Jahren.«
»Ich wollte Sie nicht verletzen, Kollege. Wir können über etwas anderes sprechen, wenn Sie mögen. Sie sind doch berühmt dafür, immer etwas Kluges zu sagen, etwas, worüber man nachdenken kann. Zum Beispiel würde es mich interessieren, ob Sie sich gelegentlich schämen.«
»Ich schäme mich jeden Tag«, sagte Loderer.
»Mit Grund – oder ist das so eine Art Angewohnheit von Ihnen?«
»An die Scham kann sich niemand gewöhnen, das zeichnet sie aus.«
»Ich schäme mich nie«, meinte Bossdorf. »Ich sage immer: Das schlechte Gewissen macht sich jeder selbst. Also habe ich beschlossen, mir ein gutes Gewissen zu machen.«
»Das hat aber nichts mit Scham zu tun.« Loderer trank einen Schluck aus dem Papierbecher, und merkwürdigerweise schmeckte ihm der Kaffee darin besser als aus jeder Tasse.
»Sondern?«
»Sondern was?«
»Sie sind nicht bei der Sache, Herr Loderer. Sie wollten mir doch was zu denken geben, bevor ich mein Tagwerk angehe. Was ist denn das Charakteristische am Schamgefühl – und kann man denn ohne Schamgefühl ein schlechtes Gewissen haben?«
»Die Scham hat keinen Spiegel mehr in dieser Gesellschaft«, sagte Loderer. »Und wenn die Leute nicht mehr in den Spiegel schauen können, dann haben sie auch keine Scham mehr. Niemand will mehr wissen, was er falsch macht. Niemand lässt sich etwas sagen.«
»Versteh zwar kein Wort, Kollege, aber gut gesagt – muss ich sagen.«
»Und das Schamlose zeichnet sich dadurch aus, dass es konkurrenzlos ist und unbegrenzt.«
»Noch einen Kaffee, Kollege?«
»Und manche Menschen haben ein schlechtes Gewissen, weil sie etwas Schlechtes gemacht haben.«
»Ja«, sagte Bossdorf, »die Welt ist schlecht, und wir reden sie uns gut, aber: Die Menschen können tun und lassen, was sie wollen, Kollege, und das gilt auch für Sie und mich. Was machen Sie denn abends, wenn Sie nach Hause kommen, und niemand ist da?«
»Sie fehlt mir«, sagte Loderer, »ich warte.«
»Aber sie kommt nicht mehr, Kollege. Worauf warten Sie denn? Leben Sie! Das Leben ist jetzt. Auch wenn es nicht alles gibt indiesem Leben, aber Milch und Zucker gibt es genug, Loderer. Also prost und tschüss. Die Arbeit wartet, viel zu tun heute. Sie auch?«
»Dr. House hat gesagt: ›Die einzige Legitimation für Handeln ist, dass man davon überzeugt ist, das Richtige zu tun.‹«
Bossdorf war schon ein paar Schritte gegangen, drehte sich noch einmal um und fragte: »Wer ist Dr. House?«
»Ein Arzt«,
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